Früher war alles besser. Früher gab es keine auf Kohlenwasserstoffen basierende Kunststoffe. Was heute Plastik ist, war damals Naturkautschuk. Naturkautschuk, Gummi Elastica, ist ein gummiartiger Stoff, der aus dem Milchsaft (Latex) von Kautschukpflanzen gewonnen wird. Das Wort Kautschuk kommt aus der Sprache der Tupi bzw. Quechua Indianer und bedeutet so etwas wie „Träne des Baumes“, „weinendes“ oder „blutendes Holz“. Klingt irgendwie nicht gut.
Naturkautschuk stammt ursprünglich aus Mittel und Zentralamerika und wurde von den Völkern Mesoamerikas schon viele Jahrhunderte genutzt. Wenn man durch die Tempelanlagen von Tikal, Palenque oder Chichen Itzas spaziert, sieht man etwa die Bilder von Ballspielen in die Stelen und Gebäude eingraviert. Diese rituellen Ballspiele wurden mit Vollgummibällen aus Naturkautschuk gespielt. Ein Teil dieser Spiele endete damit, dass die Spieler geopfert wurden. Zumindest ganz früher war es also nicht besser.
Naturkautschuk ist wasserlöslich, braun und riecht schlecht. Ich habe ein Krokodil aus Naturkautschuk, das von brasilianischen Indianern geschaffen wurde. Meine Tochter spielt trotz allem gerne damit, aber viel kann man damit nicht damit anfangen. Das war bis 1839 das Schicksal von Naturkautschuk. In diesem Jahr wurde von Charles Goodyear die Vulkanisation von Kautschuk erfunden. Ein Verfahren durch das ein neuer, sehr flexibler, wasserfester und haltbarer Werkstoff geschaffen wurde: Gummi.
70% des Naturkautschuks geht in Autoreifenproduktion
Der Name Goodyear, ohne Werbung machen zu wollen, verrät schon viel darüber, wie die Geschichte weiterging. Noch heute gehen ca. 70% des weltweit gewonnenen Naturkautschuks in die Produktion von Autoreifen. Mit dem Siegeszug des Automobils stieg die Nachfrage nach Naturkautschuk. Einem Umstand, dem die Oper von Manaus, der legendäre Film Fitzcarraldo und eine Geisterstadt im Amazonasdschungel mit dem Namen Fordlandia zu verdanken sind. Mit dem Ende des brasilianischen Naturkautschukmonopols endete der Boom so jäh wie er begonnen hatte. Und wie meistens, wenn ein Ressourcenboom zu Ende geht, kann man noch Jahrzehnte später die Schrammen, die dieser in Umwelt (Environmental), Sozialgefüge (Social) und den politischen Strukturen (Governance) hinterlassen hat, sehen. Und das wird nicht besser.
In Brasilien war Kautschuk nie plantagenfähig, da ein Fungizid resistenter Pilz die Schaffung von Monokulturen nicht zuließ. Noch heute wird daher in Brasilien Kautschuk auf sehr nachhaltige Art abgebaut. Nachdem die Pilze in anderen Gegenden der Erde aber auf Fungizide reagierten (auch ein ESG Thema), stand der Schaffung von Plantagen in Südostasien oder in Afrika nichts im Wege. Brasilien verlor damit seinen Rang als Kautschukproduzent Nr. 1 an Länder wie Indien oder das damalige Belgisch Kongo, das eine Kolonie im Privateigentum des belgischen Königs Leopold II war. Dieser ließ, u.a. auch zur Kautschukgewinnung, die einheimische Bevölkerung so schinden, dass er sich noch über 100 Jahre später einen eigenen Wikipediaeintrag („Kongogräuel“) damit „verdiente“. Definitiv nicht besser.
Der nächste große Schritt in der Geschichte des Kautschuks war dann der Erste und vor allem Zweite Weltkrieg. Der Krieg war, frei nach Heraklit, wieder einmal der Vater aller Dinge gewesen. Vor allem im Zweiten Weltkrieg war der Hunger nach Gummi groß und sowohl Deutschland als auch die USA von ihren Kautschukquellen abgeschnitten. Entsprechend wurde fieberhaft, und letztendlich erfolgreich, versucht synthetischen Kautschuk herzustellen. Womit die Geschichte des synthetischen Kautschuks, des Urplastiks, begann.
Heute befinden sich in vielen Produkten wie Gummireifen, Gummistiefeln, Kaugummis, Radiergummis oder auch den „Gummis“ eine Mischung aus Natur- und synthetischem Kautschuk. Beide Werkstoffe lassen sich mit einer Reihe von ESG Problemen verbinden. Worum es mir in diesem Artikel geht, ist, auf die Vielschichtigkeit des Themas und den damit verbundenen sozialen und umweltbezogenen Erfahrungen aus der Vergangenheit hinzuweisen. Einen Rohstoff einfach durch einen anderen zu ersetzen wird auch in Zukunft zu kurz gegriffen sein.