Nachdem in den letzten Jahren in Lateinamerika die politische Linke wiedererstarkte (Mexiko, Chile, Brasilien), ist der Wahlsieg Javier Milei‘s ist ein verzweifelter Schrei des Volkes nach Veränderung und ein Sprung ins Ungewisse. Der bis dahin in Argentinien regierende, linke Peronismus hinterlässt ein wirtschaftliches Fiasko. Beispielsweise eine jährliche Inflationsrate von über 100 Prozent und eine weltweit einzigartige Abhängigkeit von multilateralen Finanzorganisationen, allen voran des IMF.
Wirtschaftswissenschaftler und „Anarchokapitalist“
Der Wirtschaftswissenschaftler Milei und seine „Anarchokapitalisten“, libertär und ultrarechts, verfolgen politisch obsessiv ein einziges Ziel: die totale und endgültige Zerstörung des Kirchnerismus, des progressiven Flügels des (linken) Peronismus. Ihr dreister Stil und Hang zu Verschwörungstheorien weisen bemerkenswerte Parallelen zu Donald J. Trump auf. Milei trat sein Amt am 10. Dezember ohne Gouverneure oder parlamentarische Mehrheiten und mit breiten Sektoren gegen seine Politik an. Er bekräftigte vor der Wahl, dass er – sobald er Präsident ist – die Beziehungen mit den „kommunistischen“ Brasilien und China abbrechen werde. Sogar der Papst sei Kommunist.
China ist der wichtigste Handelspartner Argentiniens, noch vor den USA und Brasilien. Mittlerweile wird aber angesichts der wirtschaftlichen Realitäten mit Lula und Xi Jinping schon wieder ein Kuschelkurs gefahren. Die geschäftsführende Direktorin des IWF, Kristalina Georgieva, beglückwünschte Milei und sagte ihm, sie erwarte, mit seiner Regierung an „einem soliden Plan zur Sicherung der wirtschaftlichen Stabilität Argentiniens“ zu erarbeiten. Der gewählte Präsident bestätigte, dass er bereits sein erstes Gespräch mit der Organisation hatte und dass der Dialog schon seit August geführt wird.
Milei‘s Kabinett
Der Ökonom Luis Caputo wird dem Finanz- und Wirtschaftsministerium vorstehen. Der 58-Jährige, lange im Banken- und Finanzsektor (u.a. bei der Deutschen Bank) tätig, war unter Mauricio Macri (2015-2019) für ein Jahr Finanzminister und kurzzeitig Präsident der Zentralbank. Milei begründete seine Wahl mit dessen Fachwissen für Finanzreformen. Caputo gilt eigentlich nicht als unorthodox.
Die Ökonomin Diana Mondino wird neue Außenministerin. Sie versicherte schon, dass Argentinien der Brics-Gruppe (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) nicht beitreten werde. Und vorab meinte Milei bereits, dass er versuchen würde, den für Argentinien „nutzlosen“ Gemeinsamen Markt des Südens (Mercado Común del Sur, Mercosur) zu verlassen und dass er schnell handeln würde, um die Rohstoffmärkte zu deregulieren.
Das weitere Programm Milei‘s
Er verpflichtete sich, die Zentralbank „aufzulösen“ und die Verwendung von Bankeinlagen für die Kreditvergabe zu verbieten. Andererseits und zur Beruhigung aller Auslandsgläubiger versicherte er, alles ihm Mögliche zu unternehmen, um einen Zahlungsausfall bei den Staatsschulden zu vermeiden. Er hat bei den Wählern die Illusion erzeugt, mit einer (abenteuerlichen) Dollarisierung hohe Einkommen erzielen zu können und die Wirtschaft zu stabilisieren. Angesichts mangelnder Devisenreserven ist eine komplette Dollarisierung aber vorerst gar nicht realisierbar.
Seine Pläne beinhalten weiters eine harte Haushaltsanpassung (die Kürzung der Ausgaben um mindestens 13 Prozent des Bruttoinlandsproduktes bis Mitte 2025). Dabei sollen die öffentlichen Arbeiten, die Zahl der Ministerien und die Subventionen ebenso drastisch reduziert werden, wie die Kapitalbeschränkungen. Des weiteren versprach er die Privatisierung des Bildungs- und des Gesundheitswesens, die Liberalisierung des Organhandels, die Beendigung der Sozialprogramme, und die Reduzierung der Löhne. Außerdem widersetzt er sich der Sexualerziehung und der Abtreibung, er negiert den Klimawandel und setzt darauf, das Problem der Unsicherheit mit dem freien Tragen von Waffen zu lösen. Den Militärs bot er Begnadigungen an. In vorrauseilender Ehrlichkeit bereitete Milei „sein Volk“ zugleich darauf vor, dass Argentinien als Folge seiner steuer- und finanzpolitischen Maßnahmen eine „Stagflation“ (Estanflación) erleben werde, mit „negativen Auswirkungen auf die Wirtschaft“.
Weder traditionelle Partei noch Basis hinter Milei
Der Systemsprenger Milei kanalisiert mit ultrarechten Botschaften die Müdigkeit und Frustration angesichts des Desasters, dem sich das Land gegenübersieht. Er ist unberechenbar, singulär, und stützt sich weder auf eine traditionelle Partei wie Donald Trump, noch auf eine ideologisch-soziale Basis wie Chiles José Kast oder eine evangelikal-militärische wie Brasiliens Jair Bolsonaro. Er fährt einen ultra-reaktionären Diskurs, und fesselt seine Gefolgsleute mit öffentlichen Gesten (Motorsäge) und verbalen Ausbrüchen. Und er tritt gerne wie ein Rockstar in Lederjacke und mit wilder Mähne auf.
Schwierige Regierungsarbeit ohne Koalition
Als ehemaliger Unternehmensberater und Tantra-Lehrer hat Milei keinerlei Regierungserfahrung (seine engsten Anhänger auch nicht), und die eigene Partei stellt gerade einmal zehn Prozent in der Abgeordnetenkammer und 15 Prozent im Senat des Nationalkongresses. Regieren ohne Koalitionen wird umständlich. Und unter diesem Gesichtspunkt sind seine radikalen Pläne nur schwer durchsetzbar, wenn nicht unmöglich.
Wieder einmal gilt, dass kälter gegessen als gekocht wird. Milei kündigte aber bereits an, mit Referenden und per Dekret zu „arbeiten“, sollte parlamentarische Unterstützung für seine Ideen fehlen. Dies dürfte allerdings weitreichende Proteste im Parlament und seitens sozialer Bewegungen mit sich bringen. Also Winds of Change mit dem neuen Präsidenten Milei? Ja, schon, aber nicht ganz so stürmisch wie angekündigt und teilweise im Wasserglas.
Erläuterungen zu Fachausdrücken finden Sie in unserem Fonds-ABC.
Wichtige rechtliche Hinweise:
Prognosen sind kein verlässlicher Indikator für künftige Wertentwicklungen.