In einer Spätsommernacht in Amsterdam, am Samstag, den 31. August 1602, verließ der Notar Jan Fransz Bruyningh sein Haus am Heintje Hoeksteeg. Über die Warmoesstraat ging er zum Haus des Kaufmanns Dirck van Os an der Nes. Alle diese Straßennamen existieren noch heute, über 400 Jahre später.
Vereenigde Oostindische Compagnie – der Beginn des „Kapitalismus“
Dirck van Os war einer der Direktoren der Vereenigde Oostindische Compagnie (VOC), der „Niederländischen Ostindien-Kompanie“ (wobei „Vereenigde“ eigentlich „Vereint“ bedeutet). In seinem Wohnzimmer konnte man sich für die Teilnahme am Kapital der im selben Jahr gegründeten VOC eintragen. Um Mitternacht wurde das Buch geschlossen und der Buchhalter Lampe bilanzierte unter den wachsamen Augen des Notars Bruyning.
Kurz vor der Schließung kam Neeltgen Cornelis, das Hausmädchen von Dirck van Os, herein, um sich ebenfalls für 100 Gulden einzutragen. Da sie einen halben Gulden pro Tag verdiente, war dies für sie eine beträchtliche Summe. Nach langem Zögern und angesichts der vielen Investoren, die sich meldeten, wurde sie jedoch wahrscheinlich einer der ersten Fälle von FOMO („Fear Of Missing Out“) bei der Geburt der ersten Eigenkapitaltranche.
Erster Kapitalaustausch – die Geburtsstunde der Börse
Die Kapitalbeteiligung an sich war nicht neu. Schon seit 1595 segelten die Unternehmen, die unter der VOC vereinigt waren, in den Osten. In diese Unternehmen hatten zumeist eine Reihe wohlhabender Privatanleger investiert. Aufgrund des enormen Engagements dieser einzelnen Unternehmen, die unter einem Dach vereint waren, wurde beschlossen, die Zeichnung öffentlich zu machen. Jeder, der zu dieser Zeit in der Niederländischen Republik lebte, konnte sich daran beteiligen. Es war also nicht nur eine Investition, mit der man Geld verdienen konnte, sondern auch ein patriotischer Akt für die Bewohner der jungen Republik.
Mit 21 Jahren hatte die Investition jedoch eine außerordentlich lange Laufzeit. Den Direktoren der VOC wurde klar, dass diese Tatsache potenzielle Investoren abschrecken würde. Daher beschlossen sie, die folgende Bestimmung hinzuzufügen:
”Transporten of overdrachten kunnen gedaan worden bij de boekhouder van deze kamer”
Transporte oder Übertragungen [von Eigenkapital] können vom Buchhalter dieser Kammer vorgenommen werden.
Dies war das erste Mal in der Geschichte, dass die Möglichkeit des Eigenkapitalaustauschs offiziell dokumentiert wurde.
Ein Krieg als Auslöser
Ursprung dieser Entwicklung war ein Krieg, genau genommen der Aufstand der Niederländer gegen Spanien im 16. Jahrhundert.
In dem Carol-Reed-Film „Der dritte Mann“ sagt Orson Welles‘ Figur Harry Lime berühmt und zynisch: „In Italien gab es dreißig Jahre lang unter den Borgias Krieg, Terror, Mord und Blutvergießen, aber sie brachten Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance hervor. In der Schweiz gab es brüderliche Liebe, fünfhundert Jahre Demokratie und Frieden, und was ist daraus geworden? Die Kuckucksuhr.“
Der Aufstand begann ursprünglich wegen der Reformation. Das, was heute als Belgien und die Niederlande bekannt ist, waren die Siebzehn Provinzen, die Reichsstaaten der habsburgischen Niederlande im 16. Jahrhundert. Nach der Abdankung des habsburgischen Kaisers Karl V. im Jahr 1555 fielen die Siebzehn Provinzen an seinen Sohn, Philipp II. von Habsburg, den König von Spanien.
Religionskonflikte, bei denen Philipp II. viel strenger gegen die Reformation vorgehen wollte, als seine niederländischen Untertanen zu akzeptieren bereit waren, führten zum Achtzigjährigen Krieg, der 1568 begann. Die lokalen niederländischen Behörden waren viel eher bereit, neue Gedanken im Allgemeinen und auch in Bezug auf die Religion zu tolerieren. Da die Region im Zentrum zahlreicher Handelsrouten aus ganz Europa lag, war die Toleranz in ihrer Gesellschaft fest verankert.
Aufbruch nach Norden – die Sieben Vereinigten Provinzen
Sieben nördliche Provinzen erlangten die Unabhängigkeit und gründeten eine Republik, die Sieben Vereinigten Provinzen. Im Süden gelang es Philipp II., seine Herrschaft wiederherzustellen, was viele Menschen aus den südlichen Provinzen dazu veranlasste, in die neue Republik zu fliehen, in der eine viel größere Akzeptanz für Vielfalt herrschte. Das bedeutete auch, dass ein großer Teil des Wohlstands aus Antwerpen, Brügge, Gent und Brüssel nach Norden wanderte. Schon bald fanden Menschen aus ganz Europa, die unter jeglicher Art von Unterdrückung litten, Zuflucht in der Republik.
Die Sieben Vereinigten Provinzen befanden sich im Krieg mit der mächtigsten Nation der Welt und waren nun voller reicher Kaufleute und anderer talentierter Menschen. Als Kollateralschaden des Unabhängigkeitskampfes waren viele frühere Handelsrouten stark gestört oder sogar völlig blockiert. Diese Kaufleute, die über Mittel, Wissen und Verbindungen verfügten, begannen bald, nach neuen Möglichkeiten zu suchen. Nachdem Portugal 1580 an Spanien gefallen war, befand sich die Republik plötzlich auch im Krieg mit dem einzigen Nutznießer der Handelsroute nach Ostindien, was eine einzigartige, wenn auch riskante Gelegenheit bot.
Das Handelsmonopol
Im Jahr 1595 segelten die ersten niederländischen Schiffe nach Ostindien. Sie gehörten der privaten Gesellschaft „Compagnie van Verre“ („Gesellschaft aus der Ferne“), und obwohl sie zunächst nicht sehr erfolgreich waren, bewiesen sie doch, dass es möglich war, direkt mit Ostindien Handel zu treiben. Es folgten immer mehr solcher Unternehmen, die nicht nur mit Portugal, sondern auch untereinander konkurrierten.
Die Regierung der Republik war mit dieser Situation nicht sehr glücklich. Da sie sich immer noch im Krieg befand, wäre es viel vorteilhafter, die Anstrengungen zu bündeln und nur mit Portugal zu konkurrieren. So wurde die Ostindische Handelsgesellschaft gegründet, die das Monopol für den Handel zwischen Ostindien und der Republik erhielt. Im Gegenzug musste sie die Interessen der Republik mit allen Mitteln vertreten.
VOC war dreimal so viel wert wie Apple
Nach 1602 dauerte es noch eine Weile, bis der Aktienhandel wirklich begann, wie eine moderne Börse auszusehen. Auch hier beschleunigten Kriege und Schlachten die Entwicklung. Mit der Zeit wurde die VOC immer erfolgreicher, was durch ein stark unterdurchschnittliches ethisches Vorgehen (nicht nur im Vergleich zu modernen Standards) begünstigt wurde, und der Wert der Aktien begann stark zu steigen. In der Spitze war die VOC 78 Millionen holländische Gulden wert, was inflationsbereinigt heute einem Wert von schätzungsweise 7,9 Billionen USD entspräche. Zum Vergleich: Die Marktkapitalisierung von Apple liegt aktuell bei etwa 2,5 Billionen USD.
Die Kurse waren sehr volatil, zumal sich die junge Republik im 17. Jahrhundert fast ständig im Krieg befand, nicht nur mit Spanien. Die Anleger erkannten, dass es sich nicht nur lohnte, in das Unternehmen zu investieren, sondern auch mit den Aktien zu handeln, indem sie bei hohen Kursen verkauften und später bei niedrigeren Kursen wieder kauften. So gab es immer wieder Strategien, um den Kurs nach eigenem Ermessen zu manipulieren. Beispielsweise durch Spekulationen auf negative Nachrichten, wie einen Schiffsbruch, oder durch das Verbreiten von Gerüchten, die gar nicht stimmten. Somit mussten zunächst Vorschriften erlassen werden. Tauben wurden eingesetzt, um die neuesten Nachrichten noch vor allen anderen zu erhalten: das moderne Äquivalent zu Hochgeschwindigkeitsdatenverbindungen.
All dies zusammen bedeutete schließlich einen gewaltigen Sprung nach vorn bei der effizienten Allokation von Kapital und verfügbaren Ressourcen.
Börse für alle
Das Hausmädchen Neeltgen Cornelis kam nie wirklich in den Genuss dieser Vorteile. Sie verkaufte ihre Aktien weniger als ein Jahr später; wahrscheinlich musste sie sie verkaufen, weil sie sich die erste Zahlung nicht leisten konnte. So musste sie bei der Zeichnung nicht das gesamte Geld auf einmal aufbringen, sondern konnte diese auch in vier Raten leisten. Cornelis bekam für ihre mutige und patriotische Tat, sich an dieser enormen finanziellen Innovation zu beteiligen, nie eine Belohnung. Dennoch kann sie als Symbol für diese neue Form des Handels angesehen werden, die mehr Menschen als je zuvor, unabhängig von ihrer Herkunft, Chancen eröffnete.
Weiterführende Literatur: The World’s first stock exchange (Columbia Business School Publishing) von Petram Lodewijk
Wichtige rechtliche Hinweise:
Prognosen sind kein verlässlicher Indikator für künftige Wertentwicklungen.
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