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Deutschland: wieder der kranke Mann Europas?

Deutschland: wieder der kranke Mann Europas?
Deutschland: wieder der kranke Mann Europas?
(c) Unsplash
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In den vergangenen Monaten ist wieder das Bild Deutschlands als der „kranke Mann Europas“ in den Medien aufgetaucht. Bei genauerer Betrachtung fällt jedoch auf, dass Deutschland mit der Konfrontation von strukturellen Veränderungen nicht allein ist.

Zugegeben: Manche Entwicklungen haben einen größeren Einfluss auf den Wohlstand in Deutschland als in anderen Ländern. Die Bedeutung von Strukturproblemen in unserem Nachbarland liegt jedoch mehr in den wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen auf andere Länder begründet. Deutschland ist groß, und ein kleines Land mit strukturellen Problemen ist eben nicht so wichtig.

Generell können auf globaler Ebene mehrere strukturelle Veränderungen identifiziert werden, die wahrscheinlich noch lange anhalten werden. Diese können mit „vier Ds“ zusammengefasst werden:

  • Demografischer Wandel
  • Deglobalisierung und De-Risking
  • Dekarbonisierung
  • Digitalisierung

Demografischer Wandel

Das Wachstum der arbeitsfähigen Bevölkerung, definiert als die Bevölkerung zwischen 15 und 74 Jahren, fällt global. In immer mehr europäischen Ländern schrumpft sie sogar. Das zieht unter anderem einen Rückgang des Wachstums des Bruttoinlandsproduktes nach sich – selbst bei Vollbeschäftigung. Dieses wird als Potenzialwachstum definiert.

Deglobalisierung

Der Globalisierungsprozess ist nach der Finanzkrise (2007-2009) ins Stocken geraten. Zudem gibt es Tendenzen für eine Fragmentierung der Weltwirtschaft: Der zunehmende Konflikt zwischen den USA und China bringt auch andere Länder unter Druck, sich auf eine Seite zu schlagen. Des Weiteren hat die Pandemie die Anfälligkeiten von globalen Lieferketten gezeigt. Die Begriffe Friend- und Nearshoring beziehungsweise De-Risking sind längst keine Schlagworte mehr. Der Aufstieg der Industriepolitik hat bereits begonnen. Staaten stellen Subventionen und Steuererleichterungen in Aussicht, um Firmen anzusiedeln. Gleichzeitig sollen die inländischen Unternehmen durch die Errichtung von protektionistischen Regulierungen geschützt werden. Generell bedeutet die Notwendigkeit zur Diversifikation sowohl hinsichtlich neuer Absatzmärkte als auch neuer Bezugsquellen höhere Kosten und andererseits möglicherweise niedrigere Einnahmen.

Dekarbonisierung

Der Klimawandel erfordert alternativlos hohe Investitionen. Entweder wird in den Übergang zu grünen Energieformen investiert, um den Klimawandel zu dämpfen, oder in Anpassungen an diesen.

Digitalisierung

Die Digitalisierung verändert maßgeblich Wirtschaft und Gesellschaft. Allerdings ist bis jetzt auf der makroökonomischen Ebene das Produktivitätswachstum nicht gestiegen. Das Aufkommen der Künstlichen Intelligenz (KI) hat die Erwartungen für einen Anstieg desselben verstärkt. Die relative Wettbewerbsfähigkeit der Länder wird zukünftig davon beeinflusst werden, wie schnell und breitflächig die KI angewendet wird. Dafür sind große Investitionssummen nötig.

Wie verletzlich ist Deutschland?

Deutschland ist gemessen am Bruttoinlandsprodukt mit 4.075 Milliarden US-Dollar das größte Land in der Europäischen Union und global die viertgrößte Volkswirtschaft der Welt (nach USA, China und Japan – Quelle: Statista). Die spezifische Verletzlichkeit von Deutschland gegenüber strukturellen Veränderungen kann schnell anhand von fünf Indikatoren erkannt werden:

1. Exportorientierung

Die Exportorientierung ist hoch. Im Jahr 2022 wurden Waren im Wert von 1.655 Milliarden US-Dollar exportiert. Damit liegt Deutschland in der Rangliste der Länder an dritter Stelle (nach China und den USA, Quelle: Statista).

Grafik zu den zwanzig größten Exportländern weltweit. An erster Stelle ist China mit 3.600 Milliarden US-Dollar.
Quelle: Statista 2023, Hinweis: Die Entwicklung in der Vergangenheit ist kein zuverlässiger Indikator für künftige Wertentwicklungen.

2. Anteil der Industrie an der gesamten Wertschöpfung

Der Anteil der Industrie (des produzierenden Gewerbes) an der gesamten Wertschöpfung ist mit 24 Prozent groß. In den USA liegt der Industrieanteil mit 17,9 Prozent deutlich darunter. In China ist der Industrieanteil mit 39,9 Prozent sehr hoch (Quelle: Statista). Dabei werden die produzierten Güter zusehends qualitativ hochwertiger, während die Preise günstiger sind als jene, die im Westen produziert werden.

3. Abhängigkeit von fossilen Energieträgern

Die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern ist noch immer beträchtlich. Der Anteil der erneuerbaren Energieträger betrug im vergangenen Jahr immerhin 41 Prozent. Die zu Ende gehende Kernenergie machte 12 Prozent aus. Die nicht erneuerbaren Energieträger Steinkohle (9 Prozent), Braunkohle (19 Prozent) und Erdgas (16 Prozent) addieren sich auf 44 Prozent. Wird die zu ersetzende Kernenergie hinzugezählt, müssen insgesamt 56 Prozent der Energieträger relativ schnell ersetzt werden, um die Klimaziele zu erreichen (Quelle: Ifo-Institut). Dabei hat der Angriffs- und Abnützungskrieg in der Ukraine die Strategie, billiges Erdgas zur Überbrückung bei der Energiewende zu verwenden, drastisch gestoppt.

4. Wettbewerbsfähigkeit

Die Wettbewerbsfähigkeit von Deutschland ist aus einer globalen Perspektive nicht berauschend und abnehmend. Als Referenz wird hier das IMD World Competitiveness Ranking herangezogen. Hierbei werden 336 Wettbewerbskriterien herangezogen, die den vier Hauptkategorien a) Wirtschaftsleistung, b) Effizienz der Regierung, c) Unternehmenseffizienz und d) Infrastruktur zugeordnet werden können. Für das Jahr 2023 befindet sich Deutschland auf Platz 22. Im Vorjahr hatte es noch Platz 15 belebt. Andere große Länder in Europa liegen zwar noch hinter Deutschland (Vereinigtes Königreich: 29, Frankreich: 33, Spanien: 36, Italien: 41). Die großen Mittbewerber USA (Platz 9) und China (Platz 21) liegen jedoch vor Deutschland.

5. Bevölkerung im erwerbsfähigem Alter

Die Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter von 15 bis 74 Jahren schrumpft. Sie erreichte 2005 mit rund 64 Millionen Personen einen Höhepunkt. Im vergangenen Jahr betrug der Wert nur noch 62,3 Millionen. Die Prognosen deuten auf einen weiteren Rückgang hin. Im Jahr 2050 könnten lediglich 56 Millionen Personen im erwerbsfähigen Alter sein. Gleichzeitig steigt das Durchschnittsalter an (Quelle: Bundesinstitut für Bevölkerungsforschung). Bereits jetzt ist ein Mangel an qualifiziertem Fachpersonal feststellbar. Heuer waren in Deutschland durchschnittlich 771.493 freie Arbeitsstellen gemeldet.

Schlussfolgerung

Wirft man einen Blick auf die negativen Tendenzen auf globaler Ebene und die Besonderheiten von Deutschland, ist ein Hoffen auf einen Produktivitätsboom, ausgelöst durch die breitflächige Anwendung der Künstlichen Intelligenz, wohl zu wenig. Vielmehr steht Deutschland vor der Notwendigkeit auf mehreren Ebenen (Demografie, Deglobalisierung, Dekarbonisierung und Digitalisierung) die Verletzlichkeiten abzubauen (Handel, Industrie, Energie) und die Wettbewerbsfähigkeit zu erhöhen. Das gilt jedoch nicht nur für Deutschland, sondern für viele Länder in Europa. 

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