Mag. Christian Wehrschütz ist seit 1999 Korrespondent des ORF für den Balkan. Mittlerweile betreut er das gesamte ehemalige Jugoslawien und Albanien sowie die Ukraine. Kaum ein Journalist wie er befasst sich seit so vielen Jahren mit den Hintergründen im Ukraine Krieg. Der studierte Jurist und Milizoffizier kennt die Akteure aus zahlreichen Gesprächen und Reportagen und ist so immer nah am Geschehen, auch wenn es sich nicht verhindern lässt, dass er und sein Kamerateam in Gefahr geraten.
Wehrschütz spricht acht Sprachen und ist Militärdolmetscher für Russisch und Ukrainisch. 2022 wurde er für seine Berichterstattung aus der Ukraine mit dem Sonderpreis der Romy-Jury geehrt. Sein Buch „Mein Journalistenleben – zwischen Darth Vader und Jungfrau Maria“, das er gerade bei Vorträgen in Österreich präsentiert, gibt einen Einblick in sein Leben als Kriegsberichterstatter und Analyst des politischen Geschehens in der Ukraine und am Balkan. Am Rande eines Vortrages in Graz trafen wir Christian Wehrschütz zu einem Exklusiv-Interview für die Leser:innen des Erste Asset Management Blogs.
Herr Wehrschütz, zu Beginn eine persönliche Frage: Wie sieht Ihr Leben derzeit aus, zwischen Vorträgen zu ihrem neuen Buch und der Berichterstattung mitten aus dem Krieg in der Ukraine? Wo befinden Sie sich gerade?
Ich halte mich gerade in einem Hotel in Graz auf, da ich morgen und übermorgen Buchpräsentationen in Graz und in Köflach habe. Um 5 Uhr in der Früh bin ich heute von Kosice weggeflogen und um 6 Uhr in Wien-Schwechat gelandet, dann mit dem Zug weiter in die steirische Landeshauptstadt. Ich bin nun eine Woche in Österreich und dann wieder in der Ukraine. Die Buchpräsentationen sind der Arbeit untergeordnet. Wir versuchen das immer blockweise zu organisieren, so 4-5 Tage, und dann kehre ich zurück in die Ukraine oder an den Balkan. Die Vorträge waren bis jetzt sehr gut besucht. Ich kann nur hoffen, dass es so bleibt. Wir haben dann schon Termine bis Ende Mai. Es ist klar, dass die Berichterstattung über die Ukraine im Vordergrund steht. Das Land ist sehr groß und es sind enorme Entfernungen zurückzulegen, unabhängig von der Gefahr.
Sie sind auch seit vielen Jahren am Balkan als Korrespondent tätig. Ist der Konflikt in der Ukraine mit dem Balkan-Krieg vergleichbar – gibt es Unterschiede oder ist Krieg immer gleich schlimm/grausam?
Ja, ich bin Korrespondent des ORF für den Balkan und die Ukraine und habe zwei Büros. Die Kriege im ehemaligen Jugoslawien waren Zerfallskriege. In einem Staat, wo viele Republiken nicht mehr beim Zentrum sein wollten, weil die Vielvölkerklammer Tito, der Mythos des Partisanenkrieges und die Blockkonfrontation weggefallen waren. Wir hatten dort verschiedene Nationalitäten. Hier in der Ukraine haben wir zwei Nationalitäten, die Krieg gegeneinander führen. Die Konflikte im ehemaligen Jugoslawien, die weitgehend abgeschlossen waren – mit Ausnahme des Kosovo Konfliktes – waren Regionalkriege. Da hat eine Konfrontation mit einer Supermacht keine Rolle gespielt.
Der Krieg in der Ukraine ist dagegen auch ein geopolitischer Konflikt zwischen den Russen und den Amerikanern. Das macht die Lösung dieses Krieges so viel schwieriger: Es ist eine Einigung zwischen Moskau und Washington erforderlich, um eine Friedenslösung für die Ukraine zu finden. Es geht auch um die Stellung der Ukraine im europäischen Staatensystem. Mit der Fortdauer des Krieges wird der Konflikt in der Ukraine gehässiger. Aber dieser gegenseitige Hass, wie er am Balkan geherrscht hat – noch als Folge des Zweiten Weltkrieges und des albanisch-serbischen Gegensatzes mit einer gewissen religiösen Verbrämung bosniakischer Muslime gegen orthodoxe Serben – das sehen wir in dieser Form in der Ukraine (noch) nicht.
Wie wirkt sich der Krieg auf das alltägliche Wirtschaftsleben in der Ukraine aus? Einerseits im Westen bzw. in Kiew, haben die Geschäfte dort normal offen? Wie läuft es für die Industrie, gibt es immer wieder Produktionsausfälle bzw. hat man überhaupt genügend Personal? Wie ist da Ihre Wahrnehmung?
Natürlich ist das Finden von Arbeitskräften aus mehrfachen Gründen mittlerweile ein Problem. Ein Grund ist die massive Fluchtbewegung. Ein zweites Problem sind die Binnenvertriebenen und viele männliche Kräfte sind zum Militär eingezogen.
Wie ist die Situation im Osten, ist dort ein „normales“ Wirtschaften für Unternehmen oder die Industrie überhaupt möglich? Es muss doch einen Weg geben, dass die Millionen Menschen, die jetzt noch in der Ukraine leben, versorgt werden?
Das kommt darauf an, was man unter „normalem Wirtschaften“ versteht. Natürlich ist auch der Greißler in Uschgorod vom Krieg betroffen. Und viele Betriebe fragen sich: Habe ich morgen Strom oder nicht? Wie sieht es mit dem Nachschub aus? Gibt es genug Lebensmittel und Energie? Was kann ich überhaupt planen? Treibstoff und Rohstoffe sind massiv teurer geworden. Viele Zuliefermärkte sind ausgefallen. All das sind große Probleme, die es derzeit gibt. Abgesehen davon machen den Betrieben die Bombardements der Eisenbahnlinien und der LKW-Transporte zu schaffen. Aber die Ukrainer haben sehr starke Fähigkeiten zum Improvisieren. Das kommt ihnen in dieser schwierigen Situation entgegen.
Hilft das Freihandelsabkommen der Ukraine mit Russland bei der Überwindung von Barrieren in dieser schwierigen Zeit?
Die EU und die Ukraine wenden seit November 2014 ein Assoziierungsabkommen vorläufig an. Als Teil dieses Assoziierungsabkommens kommt seit Januar 2016 ein vertieftes und umfassendes Freihandelsabkommen vorläufig zum Tragen. Und das funktionierte bislang ganz gut. Ich habe die ukrainische EU-Ministerin Stefanischina kürzlich bei einem Interview darauf angesprochen. Demnach hat die EU alle Tarife und Zölle ausgesetzt, damit die ukrainischen Firmen keine Barrieren mehr beim Export ihrer Produkte haben. Außerdem wurden wegen der Blockade der Häfen sogenannte grüne Korridore der Solidarität geschaffen und die Vereinbarung über die Transportliberalisierung abgeschlossen. Vor dem Krieg war das unmöglich.
Schlagen sich diese Erleichterungen auch in den Exportzahlen nieder?
Die Aussetzung der Handelshemmnisse für Betriebe aus der Ukraine hatte eine auf den ersten Blick überraschende Konsequenz: der Export in die EU hat laut Stefanischina im Vergleich zum Vorjahr sogar um 15 Prozent zugenommen, und zwar von 39 auf 54 Prozent. So wurden Arbeitsplätze gesichert und Steuern in das Budget abgeführt. Und vergessen Sie nicht, es hat keinen Run auf die Banken gegeben. Das Bankensystem ist stabil.
Der Finanzbedarf der Ukraine durch die Zerstörungen ist enorm. Lässt sich das Volumen abschätzen?
Der Finanzbedarf der Ukraine für das kommende Jahr wird auf 38 Milliarden Euro geschätzt. Hier ist allerdings die Hilfe für den Wiederaufbau noch nicht enthalten. Die Ukraine benötigt dieses Kapital um zu überleben, um Sozialleistungen und Pensionen auszuzahlen und das Gesundheitswesen aufrecht zu erhalten.
Der Kiewer Bürgermeister Klitschko sagte, er erwarte den schlimmsten Winter seit dem zweiten Weltkrieg mit flächendeckenden Stromausfällen bei tiefen Temperaturen. Teilen Sie diese Meinung? Hat sich das verbessert oder ist die Stromversorgung noch immer fragil?
Es hat sich verbessert, ist aber noch fragil. Das Ganze ist wie ein Katz- und Mausspiel: Die Ukrainer bemühen sich Stromausfälle durch Reparaturen zu kompensieren. Es gab in den letzten Wochen immer wieder Angriffe, aber nicht in der enormen Intensität, wie wir sie noch Anfang Oktober gesehen haben mit mehr als 100 Flugkörpern, die an einem Tag abgefeuert wurden. Das ist heute eine andere Dimension. Aber ein großer Teil der Stromversorgung ist nicht sichergestellt. Viele Unternehmen sind nicht fähig in Betrieb zu gehen. Laut dem ukrainischen Präsidenten Selenskyj sind 6 Millionen Ukrainer ständig ohne Strom. Bei 40 Millionen Einwohnern kann man sich schon vorstellen, was das bedeutet.
Wie ist die Stimmung unter der Bevölkerung? Herrscht große Unsicherheit, vor allem im Hinblick auf die Versorgungssituation in den kommenden Monaten, oder ist man weiterhin fest entschlossen durchzuhalten?
Der Beginn des Krieges war ein Schock. Man hat den Russen „mehr“ zugetraut. Jetzt ist die Unsicherheit groß, aber auch der Durchhaltewille. Die Meinung: „Nie wieder mit und unter den Russen“ ist weit verbreitet. Es gibt ein völliges Misstrauen gegenüber allem, was aus Russland kommt.
Nach dem Kriegsausbruch gab es eine massive Fluchtbewegung in europäische Länder – auch nach Österreich. Einige sind gekommen, um zu bleiben, jedoch sind viele auch wieder in ihre Heimat zurückgekehrt. Haben Sie Einblick in Statistiken, wie viele Menschen sich aktuell noch als Flüchtlinge im Ausland aufhalten?
Ich habe keine genaue Statistik, aber das ist immer eine Auf- und Ab-Bewegung. Je nachdem ob es ruhiger ist oder gerade Kämpfe ausgebrochen sind. Daneben haben wir auch eine Binnenmigration in der Ukraine. Das ist extrem schwer zu schätzen. Man spricht jedenfalls von Millionen, die geflüchtet sind. Bürgermeister Klitschko hat das mal an der Zahl der Handytelefonate aus dem Ausland geschätzt. Es gibt aber Leute, die haben zwei oder 3 Handys.
Wie stellt sich die militärische Lage nach der Rückeroberung von Cherson durch ukrainische Truppen dar? Wo liegt der Frontverlauf, halten die Kampfhandlungen am Boden noch an oder ist die Intensität hier zurückgegangen?
Die Intensität ist sicher zurück gegangen, aber im Raum Saporischschja und Bachmut wird nach wie vor geschossen und erbittert gekämpft. Die Russen möchten diese Städte erobern und beanspruchen diese Gebiete um Donezk für sich.
Aber Wesentliches hat sich nicht verändert in letzter Zeit?
Es gibt kaum Frontverschiebungen zum Zeitpunkt dieses Interviews. Die Ukraine hat 50 Prozent des Territoriums, das sie zunächst abgeben musste, wieder zurückgewonnen. Aber die Russen graben sich massiv ein.
Ist eine Einigung oder Verhandlungslösung aus Ihrer Sicht überhaupt realistisch? Oder muss man sich auf einen langanhaltenden Konflikt einstellen? Könnte der anbrechende Winter vielleicht einen Annäherungsprozess begünstigen?
Natürlich gibt es Kontakte, aber ich glaube nicht, dass es derzeit eine seriöse Chance auf eine Verhandlungslösung gibt. Daher spricht vieles dafür, dass es im Frühjahr wieder los geht. Ich lasse mich gerne eines Besseren belehren. Die Positionen sind sehr weit voneinander entfernt. Aber wie schon vorher erwähnt: Im Grunde müssten die Amerikaner und die Russen wissen, was sie wollen, damit sie den Streitparteien ihre Positionen aufoktroyieren können.
Vielen Dank für dieses ausführliche Interview Herr Wehrschütz.
Das Interview führten Dieter Kerschbaum und Philipp Marchhart.
Weitere Informationen zu dem Konflikt und den Hintergründen, lesen Sie in unserem Dossier zum Ukraine Krieg.