Am gestrigen Sonntag fanden in der Föderativen Republik Brasilien, dem sehr ressourcenreichen und fünftgrößten Land der Erde, Präsidentschafts- und Parlamentswahlen statt. Durch das präsidentielle Regierungssystem hat das brasilianische Staatsoberhaupt weitreichende Kompetenzen, ähnlich jener des Präsidenten in den USA. Südamerikanische Präsidentschaftswahlen der letzten 3 Jahre zeigten mit Argentinien, Peru, Chile und Ecuador eine deutliche Bewegung nach links. Setzt sich diese Entwicklung im mit Abstand größten südamerikanischen Land fort?
Erster Wahlgang bringt keinen Sieger
Noch ist der Ausgang der Wahlen ungewiss. Keiner der Kandidaten erreichte im ersten Wahldurchgang mehr als 50% der Stimmen. Das amtierende Staatsoberhaupt, der ultrakonservative Jair Bolsonaro, kam auf 43,2% und der frühere, linke Amtsinhaber Lula da Silva („Lula“ – Vorsitzender der Arbeiterpartei) auf 48,4%. Somit entscheidet sich die Wahl erst in einem zweiten Durchgang am 30. Oktober.
Das Ergebnis des ersten Durchgangs fiel dabei wesentlich knapper aus als es die Umfragen hätten erwarten lassen. Schon vor 4 Jahren, als Bolsonaro an die Macht kam, hatten alle Umfrageinstitute seine Erfolgsaussichten unterschätzt. Meinungsforscher zeigen für den zweiten Durchgang den Herausforderer Lula nun mit einem Vorsprung von ca. 13% klar in Front. Hintergrund ist die festgestellte, hohe Ablehnungsrate Bolsonaros bei 55%, verglichen mit Lula’s 44% (Quelle: Genial/Quaest). Bei der Wahl 2018 war Bolsonaro noch ein weitestgehend unbeschriebenes Blatt.
Zwei gegensätzliche Kandidaten
Beide Kandidaten werden kontroversiell gesehen und führten zu einer politischen Spaltung des Landes. Lula war bereits von 2003 bis 2010 Präsident des Landes. Er verfolgte in seiner Amtszeit eine überraschend orthodoxe Wirtschaftspolitik. Zahlreiche Sozialprogramme erleichterten zudem die Armut im Land erheblich, was ihm breite Unterstützung in der betroffenen Bevölkerung sichert. Andererseits werden ihm Korruption und Vetternwirtschaft vorgeworfen (z.B. Petrobras- und Gerdau-Skandale), wofür er 2018 eine mehrjährige Gefängnisstrafe erhielt. Der mutmaßlich arbeiterpartei-nahe Oberste Gerichtshof hob diese Strafe wegen „Formalfehlern“ nach 19 Monaten wieder auf, und Lula kam wieder in den vollen Genuss seiner politischen Rechte.
Bolsonaro blieb weit hinter seinen Versprechungen zurück, vor allem was Strukturreformen, Fiskalpolitik, Armuts- und Kriminalitätsbekämpfung sowie nachhaltige Klimapolitik betrifft. Während seiner Amtszeit nahmen Brandrodungen im Amazonas sogar weiter zu. Seine nationalistisch-ultrakonservative Einstellung sowie auch seine mehrfach und offen geäußerte Sympathie für Donald Trump sorgen national und international für Bedenken. Außerdem sieht sich sein familiäres Umfeld (Sohn) mit Korruptionsvorwürfen konfrontiert. Bolsonaro hat jedoch einen mächtigen Verbündeten: Pastor Malafaia, Chef einer großen evangelikalen Kirche. Jeder dritte Brasilianer bekennt sich mittlerweile zu einer solchen, und Gottesdienste werden dazu genutzt, die Unterstützung für den „neuen Mythos“, den „neuen Messias“ Bolsonaro zu stärken. Ein nicht zu unterschätzender Machtfaktor.
Gegensätzliche Haltungen zur Wirtschaftspolitik
Im Fokus wird wie immer das „Economic Team“ stehen, welches der Gewinner aufstellen wird. Mit einer Bekanntgabe ist dabei erst Ende des heurigen oder Anfang des kommenden Jahres zu rechnen. Mögliche Kandidaten aus dem Lula-Lager sind bekannte Namen und keine Verfechter unorthodoxer Wirtschaftsthesen. Bolsonaro dürfte im Falle eines Wahlsieges den jetzigen Finanzminister Paulo Guedes, eine den Finanzmärkten willkommene Person, weiterarbeiten lassen.
Die Haltungen zur Wirtschaftspolitik der beiden Kandidaten Bolsonaro und Lula könnten unterschiedlicher nicht sein, vor allem im Hinblick auf das fiskale Regime der nächsten Jahre. Bolsonaros Plan lässt in einer potenziellen zweiten Amtszeit eine Fortführung seiner gegenwärtigen ökonomischen Agenda erwarten – eine liberale Agenda unter Fortsetzung der fiskalen Anpassung, Privatisierungen und einer generellen Reduktion des Staates. Lulas Plan deutet hingegen auf eine stärkere Rolle des Staates hin. Darunter wirtschaftliche Maßnahmen wie der Einsatz öffentlicher Banken um das Wirtschaftswachstum anzufeuern, eine Vertiefung der Arbeitsmarktreform, eine Änderung des Ausgaben-Deckels sowie ein Rückfahren der Privatisierungen.
Wohl kein Spielraum für große Strategie-Änderungen
Dennoch ist keine binäre Situation nach Abschluss der Wahlen zu erwarten. Unabhängig vom Ausgang der Wahl, ist mit einer Lockerung der Fiskalpolitik, um die Staatsausgaben zu erhöhen, zu rechnen. Allerdings wird das Parlament eine zentrale Rolle spielen, um substanzielle und unorthodoxe Strategie-Verschiebungen zu verhindern. Denn es wurden auch die Abgeordnetenkammer sowie der Senat neu gewählt. In der Abgeordnetenkammer standen sämtliche Sitze zur Neuwahl an, wobei 75% in der Hand von Rechts-/Zentrums-Rechts- und Zentrums-Parteien blieben (vorher 75%). Im Senat wurde ein Drittel neu gewählt, wobei die Rechts/Zentrums-Rechts und Zentrums-Parteien nunmehr 83% der Sitze innehaben (vorher 84%).
Bemerkenswert ist, dass sämtliche Senatskandidaten von Bolsonaros Partei erfolgreich waren. Somit sieht sich also der nächste Präsident unweigerlich mit einer Mitte/Mitte-Rechts orientierten Mehrheit im Parlament konfrontiert und wird seine Politik moderieren müssen, um die entsprechende Unterstützung herstellen zu können. Damit dürfte für extreme Strategie-Änderungen kein Spielraum vorhanden sein. Der Großteil der Bundesstaat-Gouverneure musste sich ebenfalls einer Wahl stellen, auch hier kam es zu einer manifesten Mehrheit zentrumsorientierter Personen.
Wie Bolsonaros Anhänger bei einer möglichen Niederlage reagieren, ist die große Unbekannte. Ein ähnliches Chaos wie beim Sturm des Kapitols in Washington befürchtete so mancher Analyst. „Nur Gott“ oder Wahlbetrug, ließ Bolsonaro wissen, entferne ihn aus der Präsidentschaft. Nach Veröffentlichung der Wahlergebnisse des ersten Durchganges blieb die Lage im Land jedenfalls friedlich.
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