Am 23. Juni 2016 stimmten die Briten mit einer knappen Mehrheit von 52 Prozent für einen Ausstieg aus der Europäischen Union und lösten damit ein politisches Beben aus. Fünf Jahre später – nach zähen Verhandlungen – ist der Ausstieg Realität. Nachdem Großbritannien Ende 2020 die Union verlassen hat, ist das Land seit Anfang 2021 auch nicht mehr Mittglied der EU-Zollunion und des Binnenmarkts.
Eine erste Bilanz des Austritts fällt durchwachsen aus. Die Hoffnungen der Brexit-Befürworter auf einen rasanten Aufstieg dank der Loslösung von der EU haben sich bisher, auch coronabedingt, nicht erfüllt. Die von Brexit-Gegnern befürchtete Katastrophe blieb allerdings aus. Politisch dürfte der Brexit zwar noch länger für Unruhe sorgen, wirtschaftlich ist Großbritannien unterm Strich auf einem guten Weg.
Konjunktur zieht nach Corona und Lockdowns wieder an – Inflation ebenfalls
Nach einem pandemiebedingten Rückgang im ersten Quartal dürfte sich die Wirtschaftsleistung des Vereinigten Königreichs im zweiten Quartal deutlich erholen. Laut aktuellen Prognosen des Verbands der britischen Industrie CBI (Confederation of British Industries) könnte das britische Bruttoinlandsprodukt (BIP) Ende dieses Jahres wieder das Niveau von vor der Pandemie erreichen. Die CBI-Experten prognostizieren für heuer ein BIP-Wachstum von 8,2 Prozent, gefolgt von 6,1 Prozent im kommenden Jahr. Vor allem auch die mit der Wiedereröffnung von Geschäften und Gastronomie gestiegene Binnennachfrage könnte die Wirtschaft ankurbeln, erwarten Experten.
Die Stimmung bei den Unternehmen ist weiter gut. Der vom Institut IHS Markit erhobene Einkaufsmanagerindex fiel zwar zuletzt im Juni, allerdings von einem hohen Niveau. Das Stimmungsbarometer ging um 1,2 auf 61,7 Punkte zurück, liegt damit laut Markit so hoch wie selten seit dem Erhebungsbeginn im Jahr 1998.
Eine Erholung zeichnete sich zuletzt auch am britischen Arbeitsmarkt ab. Die Beschäftigung war im Mai den sechsten Monat in Folge gestiegen, die Beschäftigungsquote liegt jetzt laut der Statistikbehörde ONS bei 75,2 Prozent. Mit 28,5 Millionen lag die Beschäftigung immer noch gut eine halbe Million unter dem Niveau vor der Coronapandemie. Gleichzeitig ging die Arbeitslosenquote zurück und beträgt 4,7 Prozent. Die Umfragen von IHS Markit deuten auf eine Fortsetzung der Arbeitsmarkterholung hin. Viele Unternehmen berichteten in den Umfragen von einer hohen Bereitschaft, neues Personal einzustellen.
Dem stehen allerdings die mit der Erholung größer werdenden Inflationsängste gegenüber. Im Mai lagen die Verbraucherpreise um 2,1 Prozent höher als ein Jahr zuvor. Die Teuerung ist damit laut ONS so stark wie seit Juli 2019 nicht mehr. Auch in anderen Industrienationen sind angesichts steigender Energiepreise und der Erholung dank der Fortschritte bei Corona-Impfungen steigende Inflationsraten zu beobachten. Die Markit-Ökonomen machen für die steigenden Preise von Vorprodukten und Rohstoffen Probleme in den Lieferketten aus.
Exportindustrie, Landwirtschaft und viele Arbeitgeber leiden unter Ausstieg
Auf Branchenseite fällt die Bilanz durchwachsen aus. Während die Binnennachfrage brummt, spürt die Exportwirtschaft den Ausstieg aus dem EU-Binnenmarkt und die damit verbundenen Handelserschwernisse. Erstmals seit Beginn der Aufzeichnungen 1997 handelte Großbritannien im ersten Quartal mehr mit Nicht-EU-Ländern als mit der Gemeinschaft.
So leidet die von reibungslosen Handelsketten abhängige Automobilbranche unter der Flut neuer Vorschriften für den Austausch von Waren. Auch die Lebensmittelbranche beklagte zuletzt starke Einbußen. So sind die britischen Lebensmittelexporten in die EU allein im ersten Quartal des laufenden Jahres um 47 Prozent gegenüber dem Vorjahr zurückgegangen.
Zudem sind einigen Branchen mit dem EU-Ausstieg und den damit verbundenen Schwierigkeiten mit dem Arbeits- und Aufenthaltsrecht wichtige Arbeitskräfte aus dem EU-Raum abhandengekommen. Seit der Wiedereröffnung von Pubs und Restaurants nach dem Lockdown haben Gastronomen zunehmend Probleme, geeignetes Personal zu finden. Mit Juli endet eine Übergangsfrist, die EU-Bürgern in Großbritannien bisher weiter das Recht auf Wohnen und Arbeiten sowie Zugang zum Gesundheitssystem zugesichert hatte. Viele Wirtschaftstreibende fordern nun liberalere Regelungen um weiter EU-Bürger beschäftigen zu können.
Brexit-Gegner fürchten schließlich Firmenabwanderungen aus der Finanzmetropole London. Noch ist die City die unangefochtene Nummer eins unter Europas Finanzzentren. Doch Studien signalisieren bereits Abwanderungsbewegungen, von denen Frankfurt profitieren könnte.
An der Börse London ist die generelle Konjunkturerholung zu spüren. Der britische Aktienindex FTSE legte bis Ende Juni gut 8 Prozent zu. An anderen Märkten ging es allerdings noch etwas stärker oben, so weist der Euro-Stoxx-50 der wichtigsten Unternehmens der Eurozone im selben Zeitraum ein Plus von gut 15 Prozent aus und der deutsche DAX von gut 13 Prozent. Das britische Pfund konnte im Jahresverlauf gegen den Euro kräftig Boden gut machen.
Brexit spaltet Bevölkerung, Politiker, Nordirland und vielleicht auch Schottland
Politisch ist der Brexit hingegen weiter heftig umstritten und spaltet das Land. In der Bevölkerung halten sich Brexit-Gegner und -befürworter jüngsten Umfragen zufolge ziemlich die Waage. Die Risse verlaufen auch innerhalb der konservativen Partei. Premierminister Boris Johnson gab sich anlässlich des Jahrestags des Brexit-Referendums weiter überzeugt von seinem Kurs: „Wenn wir uns jetzt von dieser Pandemie erholen, werden wir das wahre Potenzial unserer wiedererlangten Souveränität nutzen, um uns zu vereinen und unser gesamtes Vereinigtes Königreich auf ein höheres Niveau zu heben“. Johnsons Parteikollege und Ex-Vizeregierungschef Michael Heseltine sprach hingegen von „unheilvollen Aussichten“ – etwa für die Fischindustrie, die Landwirtschaft, den Finanzplatz London, aber auch den Frieden in Nordirland.
Nordirland ist aufgrund der Brexit-Vereinbarung de facto weiter Teil des EU-Binnenmarkts und der Zollunion, womit eine Warengrenze zum Rest des Königreichs entstanden ist. Einige Beobachter sehen den Friedensprozess in Nordirland gefährdet, für andere ist ein Referendum für eine Wiedervereinigung mit der Republik Irland wahrscheinlicher geworden. In Schottland könnte in einigen Jahren ein Referendum über eine Abspaltung vom Vereinten Königreich und eine Rückkehr in die EU bevor stehen. Die schottische Regierungschefin Nicola Sturgeon strebt ein derartiges Referendum zwar generell an, dürfte damit aber noch etwas zuwarten.
Wie kann man in britische Aktien investieren?
Wer auf ein Wiedererstarken der europäischen Wirtschaft unter Einbeziehung Großbritanniens setzt, kann in der Veranlagung den ERSTE RESPONSIBLE STOCK EUROPE einsetzen. Dieser Fonds setzt auf hochwertige und wachstumsstarke Aktien von Unternehmen, die nach ökologischen, sozialen und Unternehmensführungs-Aspekten zu den Vorreitern zählen. Britische Aktien sind aktuell zu etwa 20 Prozent im Portfolio inkludiert. Die für Aktienfonds höhere Schwankungsintensität muss dabei berücksichtigt werden.
Wichtige rechtliche Hinweise:
Prognosen sind kein verlässlicher Indikator für künftige Wertentwicklungen.