Indien stand zuletzt als Tagungsort des letzten G20-Gipfels im Rampenlicht der politischen Weltbühne. Als Erfolg – nicht zuletzt für den indischen Premierminister Narendra Modi – wird der Gipfel gewertet, insbesondere das Verfassen einer gemeinsamen Gipfelerklärung zum Klimaschutz ist positiv zu sehen.
Kurz nach dem G20-Gipfel hat sich aber das Verhältnis zwischen Indien und den größten westlichen Staaten eingetrübt. Grund hierfür ist die Ermordung von Hardeep Singh Ende Juni in Kanada. Singh war ein Führer des kanadischen Teiles einer Bewegung, welche sich für einen unabhängigen Sikh-Staat in Indien einsetzt (und von Indien als terroristische Gruppierung eingeschätzt wird).
Der kanadische Premierminister Justin Trudeau ging Mitte September mit schweren Vorwürfen an die Presse und beschuldigte explizit den indischen Staat in die Ermordung von Singh (eines kanadischen Staatsbürgers) involviert gewesen zu sein. Wenig überraschend wurde dies von Indien postwendend scharf zurückgewiesen; zuletzt wurden 40 kanadische Diplomaten aus Indien mit Stichtag 10. Oktober ausgewiesen.
Der kanadische Premierminister hat bislang keine Beweise für seine Behauptung vorgelegt, Beobachter vermuten jedoch, dass umfangreiche geheimdienstliche Informationen (auch durch Verbündete wie den USA) vorliegen.
Westen zuletzt um bessere Beziehung zu Indien bemüht
Für den Westen ist die Situation ein tiefgreifendes, geo-politisches Problem: Indien wird insbesondere auf wirtschaftlicher Basis als mittel- bis langfristiges, demokratisches Gegengewicht zu China gesehen und aus diesem Grund sind die führenden westlichen Staaten um eine positive Zusammenarbeit bemüht. Die Financial Times spricht sogar von einer geo-politischen „All-in-Wette“ des Westens, insbesondere von den USA, Großbritannien und Australien. Die USA hatten zuletzt die Beziehungen zu Indien stark verbessert und in verschiedenen wirtschaftlichen und militärischen Bereichen die Zusammenarbeit intensiviert. Für Premierminister Modi wurde im Juni 2023 sogar ein Staatsbankett im Weißen Haus abgehalten, was eine große diplomatische Ehre darstellt.
Auch Großbritannien ist um eine Vertiefung der Beziehungen bemüht und verhandelt aktuell ein Freihandelsabkommen mit Indien, dessen Abschluss einer der größten politischen Erfolge der britischen Führung nach dem Brexit darstellen würde. Die politischen Zuwendungen gelten dabei zumeist dem Premierminister direkt, da er unmittelbar für den wirtschaftlichen Erfolg der vergangenen Jahre verantwortlich zeichnet.
Kein Interesse an politischer Eskalation
Damit kommen der Mord und die Anschuldigungen von Premierminister Trudeau zu einer absoluten Unzeit für alle Beteiligten. Die westlichen Verbündeten haben kein Interesse an einer politischen Eskalation mit Indien, welche das Tauwetter nachhaltig beschädigen könnten. Es bestünde zudem die Gefahr, dass sich Indien beispielsweise Russland verstärkt zuwendet.
Zudem wäre auch die Umsetzung von wirtschaftlichen Strafmaßnahmen für den Westen sehr nachteilig, da dies eine Eskalation mit einem dritten großen Wirtschaftsraum (nach China und Russland) bedeuten würde und in der Folge der Westen sich zunehmend selbst von relevanten Zukunftsmärkten isolieren würde. Gleichzeitig könnte der Westen (sofern entsprechende Beweise vorgelegt werden würden) eine entsprechende Beteiligung Indiens nicht ignorieren – die Glaubwürdigkeit der Wahrung essenzieller Werte und Normen stünde auf dem Spiel.
Im Ergebnis ist wohl eine politische Eiszeit für einen Zeitraum von 1-2 Jahren die wahrscheinlichste Antwort des Westens, ähnlich wie im Mordfall Jamal Kashoggi im Jahr 2018 (damals im Generalkonsulat von Saudi-Arabien in Istanbul). Auch hier setzte sich nach einem internationalen Aufschrei die Realpolitik durch und der mittlerweile zum Premierminister Saudi-Arabiens ernannte Kronprinz Mohammed bin Salman ist wieder Gesprächspartner hochrangiger, westlicher Politiker.
Indische Wirtschaft in guter Verfassung
Abgesehen von diesen geo-politischen Verwerfungen präsentiert sich Indien aktuell insbesondere makro-ökonomisch in guter Verfassung: Der IMF erwartet in seinem aktuellen Economic Outlook (Oktober 2023) ein BIP-Wachstum von jeweils 6,3% für die Jahre 2023 und 2024. Dies sind die größten Wachstumsraten innerhalb der G20 und insbesondere um 1,3% bzw. 1,9% höher als jene der „globalen Wachstumslokomotive“ China.
Quelle: Statista.com, IMF (Bei den Werten für 2023 und 2024 handelt es sich um Prognosen) Hinweis: Bitte beachten Sie, dass die Entwicklung in der Vergangenheit kein zuverlässiger Indikator für künftige Wertentwicklungen ist. Prognosen sind kein zuverlässiger Indikator für künftige Entwicklungen.
Der IMF merkt in der letzten ausführlichen Analyse von Indien (Dezember 2022) an, dass trotz der bestehenden Herausforderungen auf globaler Ebene (angeführt wird die Inflation-Problematik, insbesondere auch im Nahrungsmittel- und Energiebereich) die politische Führung ihre Reformvorhaben in einigen Bereichen erfolgreich umgesetzt hat.
Daher bleibt zu hoffen, dass Premierminister Modi die Zeichen der Zeit verstanden hat und seinen offenkundigen Willen, Reformen in Indien umzusetzen nicht durch unnötige und durch das internationale Recht nicht gedeckte Taten verwässert.
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