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Langfristiger Ausblick: Zeitenwende für Inflation, Wachstum und Zinsen

Langfristiger Ausblick: Zeitenwende für Inflation, Wachstum und Zinsen
(c) pexels / Pok Rie

Auch wenn das jetzige Kernproblem der zu hohen Inflation im Laufe des nächsten Jahres langsam in den Hintergrund treten dürfte, bleiben auf lange Sicht betrachtet zahlreiche Unsicherheiten bestehen. Das betrifft Themen wie die geopolitischen Risiken, die Fragmentierung der Weltwirtschaft, den demografischen Wandel, den Klimawandel, die Digitalisierung, die angestiegene Verschuldung, den Einfluss von China sowie den zugenommenen Populismus. Um einen besseren Überblick zu erhalten, werden im Folgenden diese Themen insgesamt vier Szenarien zugeordnet, die anhand der beiden Dimensionen (Achsen) Wachstum und Inflation eingeteilt werden können.

Wachstum oder kein Wachstum?

Am einfachsten ist die Einschätzung des Einflusses der Demografie auf das langfristige Wirtschaftswachstum (das Potenzialwachstum). Weil das Wachstum der arbeitsfähigen Bevölkerung weiter fallen und in einigen Ländern sogar schrumpfen wird, wird das Wachstum tendenziell fallen – wenn sich sonst nichts ändert.

Es gibt jedoch zwei mögliche Entwicklungen, die das Wachstum stützen könnten:

  • Die Argumente für eine Zunahme der Investitionstätigkeit in den Segmenten Risikoreduktion (Friend- / Nearshoring, Verteidigung, Klimawandel – Übergang und Anpassung) und Digitalisierung nehmen zu. Damit könnte die Phase des schwachen Investitionswachstums nach der Großen Rezession überwunden werden.
  • Der Spruch des Ökonomen Solow, wonach man das Computerzeitalter überall sieht nur nicht in der Produktivitätsstatistik, könnte mit dem Aufkommen der Künstlichen Intelligenz obsolet werden.

Inflation: gekommen um zu bleiben?

Auch auf der Inflationsseite geht es darum, ob ein Strukturbruch stattfinden wird. Bis vor kurzem haben langfristig wirkende Kräfte, vor allem die Globalisierung, für eine fallende und niedrige Inflation gesorgt. Doch die tendenzielle Fragmentierung der Welt in Einflusssphären (ein westlicher Block, ein asiatischer Block) könnten den Druck für eine fallende Inflation umkehren. Dabei nehmen die Ineffizienzen zugunsten eines geringeren Risikos (Stichwort: Friendshoring) zu. Darüber hinaus könnten die ansteigenden geopolitischen Spannungen und der Klimawandel zu einer Häufung von Inflationsschocks und einem Anstieg der langfristigen Inflationserwartungen führen. Weiters wirkt der zunehmende Engpass am Arbeitsmarkt inflationär.

Unser favorisiertes Szenario: Inflationäres Wachstum

Im wahrscheinlichsten Szenario (50%) wird der wachstumsdämpfende Effekt der sinkenden arbeitsfähigen Bevölkerung durch höhere Investitionsausgaben kompensiert. In den Industrieländern wächst das reale Bruttoinlandsprodukt im langfristigen Durschnitt bei 2% p.a. Das liegt etwas über dem Durchschnitt seit dem Jahr 2000 (1,6% p.a.). Die Inflation stabilisiert sich etwas über dem Zielwert der Zentralbanken bei 2,5% p.a., wobei die Schwankungen der Inflationsraten gering sind (= geringe Inflationsunsicherheit).

Vor allem die Blockbildung zwischen dem Westen und Asien (China), begleitet von einem Aufstieg der Industriepolitik, wirkt hierbei inflationär. Der Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter unterstützt über höhere Löhne die Inflation. Die Zentralbanken können in diesem neuen strukturellen Umfeld wenig gegen die Inflation unternehmen und verfolgen eine neutrale Geldpolitik. Weil das Kapital knapp wird (mehr Investitionen, Zunahme der Personen über 65 Jahre), das heißt, nicht mehr im Überschuss vorhanden ist, steigt der um die Inflation bereinigte neutrale Zinssatz auf 1,5% an. Bis vor der Pandemie lagen die Schätzungen für den realen neutralen Zinssatz bei circa null Prozent. Die alte Daumenregel, wonach das nominelle Wirtschaftswachstum (4,5%) ein guter Schätzer für das Zinsniveau ist, gilt wieder (Leitzinssatz: 4%, zehnjährige Staatsanleiherendite: 4,5%). Dieses volkswirtschaftliche Umfeld ist günstig für die traditionellen Wertpapierklassen (Aktien, Anleihen). 

Szenario Inflationäre Stagnation

In diesem Szenario (Wahrscheinlichkeit: 20%) halten einige strukturelle Entwicklungen die Inflation auf einem hohen Niveau (5% p.a.) und drücken auf das Wachstum (1% p.a.). Die Geldpolitik bleibt mit einem Leitzinsniveau von 4% (bedeutet einen realen Zinssatz von minus 1%) zu locker. Die Auswirkungen des Klimawandels könnten bereits in den kommenden 10 Jahren zu Inflationsschocks (Nahrungsmittel), einem niedrigeren Wachstum (weniger Produktion aufgrund von Hitze, Naturkatastrophen, Wasser- und Energiemangel) führen. Die geopolitischen Risiken wiederum bedeuten, dass wichtige Rohstoffpreise häufiger als in der Vergangenheit schnell und stark (= Schock) ansteigen könnten. Insgesamt könnte eine Häufung von negativen Angebotsschocks zu einem Anstieg der Inflationsunsicherheit und damit begleitet der langfristigen Inflationserwartungen führen. Dieses Umfeld ist nachteilig für die traditionellen Wertpapierklassen (erwarteter jährlicher Aktienertrag: langfristig 4,5%) und begünstigt inflationsgeschätzte Anleihen, Hochzinsanleihen, Alternative Investments und Rohstoffe.

Szenario Deflationäre Stagnation

Dieses Szenario (Wahrscheinlichkeit: 15%) war bereits in der Periode nach der Großen Rezession und vor der Pandemie beobachtbar. Auch diesmal könnte ein zunehmender Sparüberschuss die Zinsen (1%) und die Inflation (1,5%) auf einem niedrigen Niveau halten. Dafür gibt es zwei mögliche strukturelle Entwicklungen: In den Industriestaaten führen die hohen Schuldenquoten zu einer restriktiven Fiskalpolitik und China fällt tatsächlich in eine Schuldendeflation beziehungsweise Bilanzrezession. Vor allem letzteres stellen einen neuen Unsicherheitsfaktor dar. In China erzeugt das Ende des investitionsgetriebenen Wachstums einen Sparüberschuss, der entweder über einen hohen Leistungsbilanzüberschuss exportiert, oder durch hohe Budgetdefizite oder einen höheren privaten Konsum kompensiert werden könnte. Wenn die Umstellung auf andere Wachstumstreiber nicht funktioniert, könnte China für eine längere Zeit einen Deflationsdruck in die Welt exportieren. Vor allem Anleihen werden von dem abermaligen Abgleiten in eine niedrige Inflationsphase begünstigt.

Szenario Deflationäres Wachstum

In einem besonders günstigen Umfeld (Wahrscheinlichkeit: 15%) kommt es zu einer inflationsfreien Zunahme des Wachstums, weil das Produktivitätswachstum zunimmt (reales BIP-Wachstum: 2,5% p.a., Inflation: 2% p.a.). Denn der Rückgang der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter erhöht den Anreiz für produktivitätssteigernde Investitionen. Das Aufkommen der künstlichen Intelligenz beschleunigt diesen Prozess. Der reale neutrale Leitzinssatz steigt auf 2,5% an, die zehnjährige Staatsanleiherendite beträgt im Durchschnitt 5%. Vor allem Aktien können von dieser Entwicklung profitieren. Der erwartete jährliche Ertrag steigt für die lange Sicht auf 9% an.

Vor allem in Zeiten, in denen auf mehreren Ebenen ein Strukturwandel stattfinden könnte, macht es Sinn, über Szenarien nachzudenken, als sich nur auf die wahrscheinlichsten Projektionen zu verlassen.  Dabei stellt sich heraus, dass in zwei Szenarien (inflationäres Wachstum und inflationäre Stagnation) mit einer addierten Wahrscheinlichkeit von 70% die Inflation in den kommenden zehn Jahren über dem Zielwert der Zentralbanken liegen wird. Doch im wahrscheinlichsten Szenario (inflationäres Wachstum) würde das kein Problem für die Kapitalmärkte darstellen.

Die Inflation fällt auf ein zu niedriges Niveau (unter das Zentralbankziel von 2%). Die Geldpolitik reagiert darauf mit Leitzinssenkungen auf null Prozent, aber die Inflation steigt dennoch nicht an. Auf der Inflationsseite geht es vor allem darum, ob China in den kommenden Jahren einen deflationären Druck auf die Weltwirtschaft ausüben wird und ob die Staaten in den entwickelten Volkswirtschaften sparen, das heißt, die Budgetdefizite deutlich reduzieren werden. Wenn diese beiden Entwicklungen zusammentreffen, könnte die Inflation tatsächlich auf die lange Sicht abermals unter das Zentralbankziel von 2% fallen.

Wahrscheinlicher ist jedoch, dass die zunehmende Tendenz zum Populismus und die politische Polarisierung eine restriktive Fiskalpolitik verhindern werden. Auch eine lange anhaltende restriktive Geldpolitik ist für den Fall einer Stabilisierung der Inflation über dem Zentralbankziel schwer vorstellbar. Darauf deutet auch das Einpreisen von rund 1,5 Prozentpunkten an Leitzinssenkungen bis Ende 2024 in den USA hin, obwohl die Inflationsrisiken nach wie vor erhöht sind.

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