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Zeit für eine neue Nachhaltigkeit?

Zeit für eine neue Nachhaltigkeit?

Anfang September fand das Wirtschaftsforum im polnischen Karpacz statt. Mitunter als das „Davos des Ostens“ bezeichnet, gilt es als Weltwirtschaftsforum für Zentral- und Osteuropa (CEE).  Ebenso reichhaltig wie in den Schweizer Alpen oder in Österreich beim Forum Alpbach waren die Themen, die während des mittlerweile 33. Forums unter dem Motto A Time for New Leaders: Shaping the Future Together diskutiert wurden.

Das Bild, das sich quer durch die Themen zeichnete, egal ob es um Künstliche Intelligenz und Cybersicherheit, Gesundheit, internationaler Sicherheit, den Städten von morgen bis hin zu Energie und nachhaltiges Wirtschaften handelte: Wir befinden uns mitten in einem ökonomischen und politischen Umbruch. Die Frage der Fragen, die vor Ort erörtert wurden: „Wie kann man in Polen und in der gesamten CEE-Region nachhaltige Erfolgsgeschichten schreiben?

Mehr als eine Waffenschmiede und Wehranlage Europas

Das polnische Wirtschaftswachstum, seit 1989 das höchste in Europa, das selbst der Finanzkrise 2008/2009 getrotzt hatte, verlangsamte sich zuletzt. Der Krieg ist durch die Invasion Russlands in der Ukraine bis an die Grenze des Landes zurückgekehrt und öffnete historische Wunden. Eine Realität, die auch in Karpacz gegenwärtig war. In den Diskussionen wurde die Bedeutung ein Bollwerk zur Verteidigung des Landes (und seiner Partner) aufzubauen, angesprochen. Denn nur Stärke werde einen positiven Ausgang dieser Krise sichern. Gleichzeitig schwang aber auch die Sorge mit, den ökonomisch nachhaltigen Erfolg des Landes nicht auf die Rolle einer Waffenschmiede und Wehranlage Europas zu reduzieren, sondern seine Wachstumsgeschichte auch zukünftig auf Basis einer stark diversifizierten Wirtschaft weiterzuschreiben.

Urteilt man nach der Präsenz und dem Aufwand ausländischer Investoren und Handelskammern am Forum, buhlten weiterhin die wichtigsten internationalen Akteure ganz konkret um die besten Chancen in Polen und CEE (hinter der Folklore der eigenen Clichées): Wo die Schweizer vor ihrem Pavillon Fondue servierten, während deren Pharmakonzerne paneelierten, avancierte Frankreich bei Café und Croissants seine Technologie und Infrastruktur in Polen. Deutschlands Wirtschaftsvertreter diskutierten in einem kleinen Oktoberfestzelt, und die amerikanische Handelskammer in einem eigens aufgebauten riesigen American Dinner inklusive eigener McDonalds-Filiale um ihre Interessen zu vertreten.

Senior ESG Specialist Dominik Benedikt (3. v.l.) bei einem Panel am Wirtschaftsforum im polnischen Karpacz

Großes Medieninteresse

Dem Spektakel wohnten hochrangige Teilnehmer:innen aus der Wirtschaft, den Universitäten, der Zivilgesellschaft, der Politik und den Medien bei. Unzählige Fernseh- und Radiostationen, sendeten direkt aus den Gängen der Konferenz live, und trugen die Botschaften weit über Karpacz hinaus. In den Gängen spazierten autonome Roboter zwischen den Konferenzteilnehmer:innen und agierten mit diesen. In den futuristisch anmutenden Sälen wurden den neuen Chancen im Bereich künstlicher Intelligenz die in Frage kommenden Risiken gegenübergestellt: Etwa bei der Cybersicherheit und den Gefahren der möglichen gesellschaftlichen Auswirkungen, vor allem politischer Natur. Auch die Frage, ob große Teile der Bevölkerung noch Arbeit finden würden – zog sich durch viele Vorträge. Ein optimistisches Bild zeichnete der Schlesische Salon: während sich die Konferenzteilnehmer um die besten Produkte der Region austauschten, räumten Roboter das Geschirr weg. Subjektiv gemessen an den eigenen Kindern, ist das keine Aufgabe, die den Menschen übers Maß abgehen sollte.

Enorme Durchbrüche in der medizinischen Forschung

Der rote Faden, der sich durch all die Themen zog, war die Frage, wie man diese Entwicklungen nachhaltig gestalten könne. Dabei richtete sich die Frage nicht danach, wie man damit die Erfordernisse eines klassischen ESG-Ratings besser erfüllen könne, sondern wie die gesamten Systeme nachhaltig aufgestellt werden können.

Beispielsweise erleben wir aktuell durch Biotechnologie, Gentherapien und personalisierte Medizin enorme Durchbrüche in der Medizin. Ebenso kommen immer mehr innovative Präparate auf den Markt, um seltene Krankheiten behandeln zu können. Für den einzelnen Menschen hat dies mitunter einen lebensverändernden positiven Impact. Für das gesamte Gesundheitssystem ist dies jedoch eine immense Herausforderung, da die Kosten für diese Therapien stetig steigen. Immer neue Budgets bereitzustellen um „noch mehr Medikamente-Schachteln“ bezahlen zu können, ist ein Ansatz, der zum Scheitern verurteilt ist. Ein nachhaltiges Gesundheitswesen braucht Investitionen in Innovationen und Effizienz. Ziel für Gesundheitswesen ist etwa durch frühere Erkennung, Vorsorge und eine intelligentere “Patient Journey”, den Menschen solche fortschrittlichen Therapien anbieten zu können, ohne selbst an der Last steigender Kosten zu zerbrechen (und dabei unweigerlich einen großen Teil der Menschen von diesen Fortschritten der Medizin auszusperren).

Chancen und Gefahren durch und mit Nachhaltigkeit

Spannend zu hören war, wie in einem Land und einer Region, die häufig noch dem Begriff der Nachhaltigkeit beziehungsweise dem Konzept von ESG zurückhaltend oder desinteressiert gegenübersteht, dieses Thema zunehmend Fuß fasst. Für Piotr Glen, Professor an der Warsaw School of Economics und dortiger Leiter für ESG und Nachhaltigkeit, stellt sich die Frage nicht mehr, ob ESG relevant und sinnvoll ist. Vielmehr gilt auszuloten, wie Unternehmen am ehesten die Chancen daraus nutzen können.

Es besteht aber auch Widerspruch: Die polnische Solidarność, die erste unabhängige Gewerkschaft unter dem Warschauer Pakt und wichtiger Akteur des Endes des Kommunismus in Polen, sah sich gezwungen in einer eigenen Veranstaltung vor der „gefährlichen Ideologie des europäischen Green Deals“, die die europäische Wirtschaft zerstören würde, zu warnen. Bei aller berechtigter Kritik ist die Klage über die verlorenen Arbeitsplätze in Kohleminen und Stahlwerken wahrscheinlich als ausgeprägte Nostalgie zu deuten. Natürlich ist es wichtig jedes individuelle Schicksal zu berücksichtigen, und den Wandel entsprechend zu begleiten. Jedoch zeigen alle Wirtschaftsdaten, dass erneuerbare Energien stets deutlich mehr neue Industriejobs geschaffen haben, als zuvor verloren wurden. Gleichzeitig ist die Warnung, die ökonomischen Umbrüche zur Ökologisierung der europäischen Wirtschaft nicht unbedacht oder gar naiv zu betreiben, berechtigt: Immerhin hat es Europa geschafft als ehemals führender Produzent die Photovoltaik komplett an China zu verlieren und kämpft nun auch in der Elektromobilität gegen ähnliche Szenarien an. Gleichzeitig passieren vielversprechende Innovationen anderswo.

Das Wirtschaftsforum stand in diesem Jahr unter dem Motto „A Time for New Leaders: Shaping the Future Together

Statt Wirtschaft nur mehr Konzerte und Theater?

Der möglicherweise überspitzte Aufruf der amerikanischen Klimaaktivistin Sage Lenier, unsere Wirtschaft gänzlich von einem Ressourcen-basierten Modell in eines, das menschliches und ökonomisches Wachstum durch Konzerte und Theater fördern soll, ist wenig überraschend dem gegenüber eher verhallt.

Die europäische Regulatorik, von SFDR bis CSRD und CS3D, haben sich dabei zweifelsfrei als Starthilfe in der Bewusstseinsbildung erwiesen. Ist ein Unternehmen von Rechts wegen angewiesen, ökologische und soziale Risiken zu erfassen und zu berichten, muss es diese auch managen. Gleichzeitig bedingt dies auch die Gefahr, das ESG zu einer kostspieligen Kommunikations- und Compliance-Übung verkommt. Diese Sorge war Gegenstand vieler Diskussionen in Karpacz.

Die Herausforderung ist, unter dem Mantel von ESG kein schlecht sitzendes Korsett zu schnüren, das speziell jungen Unternehmen und KMUs teure oder sogar unüberwindbare Barrieren in den Weg legt. Im Gegenteil: Es muss daraus eine Kraft werden, die Innovation, Impact und gesteigerte Wettbewerbsfähigkeit befeuert.

Ebenso gilt es sich nicht in grünen Hochglanzreports zu verlieren, die bestenfalls anhand ISO- und sonstiger Zertifizierungen für Transparenz und strukturierte Information sorgen, oder schlimmstenfalls überhaupt nur unfundiertes Greenwashing liefern, aber den Kern dessen, was ein Unternehmen tatsächlich langfristig nachhaltig wirtschaften lässt, häufig nur peripher tangieren.

Die Universität Cambridge hat dies in einem kürzlich erschienen Research Report noch deutlich drastischer ausgedrückt:

Die unbequeme Wahrheit für die Welt der unternehmerischen Nachhaltigkeit ist, dass es ein sehr reales Risiko gibt, dass – mit Ausnahme einiger weniger Unternehmen – die Mehrheit der Unternehmen und das Ökosystem von Beratern und Advokaten, die sie unterstützen, tatsächlich zu dem Problem beitragen, indem sie den Eindruck erwecken, dass wir gute Fortschritte machen, und dadurch die erforderlichen radikalen Veränderungen der Märkte und der Politik, die sie umgibt, verzögern. Heldenprojekte, langfristige Zusagen und Offenlegungen sind Teil der Lösung, aber sie werden das Rad nicht bewegen, solange es profitabel bleibt, Natur und Gesellschaft zu schädigen.

Gerade dadurch, dass ESG in vielen CEE Ländern erst mit etwas Verzögerung ankommt, besteht bei vielen Akteuren, die sich dem Thema verschrieben haben, der Wille diese Fehler nicht zu wiederholen.

ESG muss vor allem auf lösungsorientierte Ansätze bauen

Auch das Panel, bei dem ich die Bedeutung für die Integration von ESG-Risiken und -Chancen in Geschäfts- und Anlageentscheidungen diskutieren durfte, betonte die Erkenntnis, dass ESG nur über lösungsorientierte, pragmatische Ansätze die direkt auf den Kern der Tätigkeit eines Unternehmens abstellen, zielführend Ergebnisse liefern kann. Als regulatorisch oder anders motiviertes Add-on ist es zum Scheitern verurteilt.

Eine Konferenz wie in Karpacz bietet trotz aller Grenzen und Widersprüchen solcher Meetings eine Gelegenheit, dass solche Gedanken nicht im Kreis einiger CEO, Universitären, Vertreter von NGOs, Aufsichten und Investoren verhallen, sondern die Diskussion und die Lösungsansätze weit darüber hinaus getragen werden. Dies ist nötig, denn die Herausforderungen, vom Klimawandel über Biodiversität bis hin zu den geopolitischen Implikationen von Ressourcen-Abhängigkeiten, brauchen nicht nur Innovationen aus Wirtschaft und Finanzen, sondern auch wirklichen politischen Lösungswillen.

Diesen zu mobilisieren verlangt mehr als einen Diskurs, der auf Verzicht, Schuld für vergangene Entwicklungen und Treibhausemissionen und ein Denken Nord gegen Süd aufbaut, sondern fundierter, pragmatischer, zukunftsgerichteter Lösungen und Denkansätze. Genau diese benötigen die politischen Entscheider der Region – wie unsere Gespräche mit Regierungsmitgliedern aus Staaten der Region aufgezeigt haben.

Gerade als Erste Asset Management, die sich der Frage nachhaltiger Geldanlagen seit mittlerweile bald einem Viertel Jahrhundert verschrieben hat, können wir hier legitim mitdiskutieren und überzeugen – eine Aufgabe, der wir uns alle stellen müssen, wenn wir ein tatsächlich sozial, ökologisch und ökonomisch nachhaltige Zukunft für CEE, für Europa und unseren gesamten Planeten nicht nur im Namen, sondern in der Sache schaffen wollen.


[1] Hooper, L. & Gilding, P. University of Cambridge Institute for Sustainability Leadership (CISL), 2024, Survival of the Fittest: From ESG to Competitive Sustainability

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