Die risikobehafteten Wertpapierklassen haben in den vergangenen Wochen eine sehr gute Ertragsentwicklung gezeigt. Die Aktienkurse sind weiter angestiegen und die Renditeaufschläge für das Kreditrisiko haben das Vor-Pandemie Niveau erreicht beziehungsweise sind auf dem besten Weg dorthin.
Wie passt das zusammen, wo doch zahlreiche Länder mitten in der zweiten Infektionswelle stecken? Was kann für nächstes Jahr erwartet werden?
Durchhaltevermögen
Das wohl wichtigste bestimmende Element für die Kapitalmärkte sind die positiven Impfstoffnachrichten. Effekte und sichere Impfstoffe haben das Potential, den negativen Zusammenhang zwischen Virusentwicklung und Mobilität zu brechen.
Aktuell sind die hohen Fallzahlen in den USA Besorgnis erregend. In Europa werden aufgrund der negativen Virusentwicklung in einigen Ländern die Lockdownmaßnahmen verlängert beziehungsweise verschärft.
Die Entwicklung von Sars-CoV-2 wird auch im Jahr 2021 die Volkswirtschaften und die Märkte maßgeblich beeinflussen. Denn es wird einige Monate dauern, bis ein genügend großer Anteil der Bevölkerung geimpft werden kann, um Herdenimmunität zu erreichen. Zudem hängt viel von der Impfbereitschaft der Leute ab.
Damit ist entscheidend, dass die Marktteilnehmer weiterhin die aktuell negativen Nachrichten von der epidemiologischen und der volkswirtschaftlichen Seite ignorieren und auf eine anhaltende Erholung des BIP-Wachstums und der Unternehmensgewinne setzen. Eine dritte Infektionswelle stellt ein wichtiges Risiko für die erste Jahreshälfte 2021 dar.
Die 98% Wirtschaft
Das Basisszenario lautet auf eine holprige, uneinheitliche und teilweise Erholung. „Holprig“ deshalb, weil das Bruttoinlandsprodukt in Europa im vierten Quartal schrumpfen wird und auch jenes in den USA im ersten Quartal fallen könnte.
In einem Risikoszenario könnte es ruppig bleiben. Neben einer weiteren Infektionswelle ist hier der Fokus auf ansteigende Unternehmenskonkurse gerichtet. „Uneinheitlich“ deshalb, weil einige Sektoren und Länder weniger stark von der Pandemie betroffen sind als andere. Die Einzelhandelsumsätze haben in vielen Ländern bereits das Niveau vom Jänner überschritten und die Industrieproduktion sowie die Exporte sind auf dem besten Weg dorthin.
Während der Gütersektor also einen V-förmigen, wenn auch holprigen, Erholungspfad zeigt, sind wenig überraschend einige Sektoren im Servicesektor (jene mit direkten Konsumentenkontakten) stark beeinträchtigt. „Teilweise“ deshalb, weil jüngste Forschungen darauf hindeuten, dass diese Sektoren auf Jahre hinaus beeinträchtigt bleiben.
Man spricht von der 98%-Wirtschaft. Nichtsdestotrotz schlägt die Aussicht auf Herdenimmunität eine nachhaltige Erholung der globalen Wirtschaft vor. Das Risiko liegt in einer ruppiger als erwarteten Erholung und in einem stärkeren bleibenden volkswirtschaftlichen Schaden.
Herausforderndes Umfeld
Das strukturelle Umfeld ist jedoch herausfordernd. Dabei hat die Pandemie zum Teil bestehende Trends verstärkt. Die Zinsen sind nahe null Prozent, die Zentralbankgeldmengen sind nach oben hin explodiert, die Staatsverschuldung ist kräftig angestiegen und die soziale Ungleichzeit hat weiter zugenommen.
Zudem erfordert der Klimawandel gewaltige Investitionen, fällt das Wachstum der Erwerbsbevölkerung immer weiter und steigt der Altenquotient immer mehr an. Darüber hinaus hat die Digitalisierung einen Schub nach vorne erhalten, schreitet der Aufstieg Chinas voran ebenso wie die Integration der Europäischen Union. Zu guter Letzt bedeutet eine US-Präsidentschaft unter Biden unter anderem die Wiederbelebung des Multilateralismus.
Sekundärrundeneffekte vs. Strukturwandel
Um nur einen wichtigen Trend beziehungsweise Zielkonflikt hervorzuheben: Nach den Rettungsmaßnahmen im heurigen Jahr sind weiterhin große Anstrengungen seitens der Wirtschaftspolitik notwendig, um Sekundärrundeneffekte- und Überwälzungseffekte von den direkt betroffen Sektoren (Servicesektor) auf die gesamte Volkswirtschaft einzudämmen und gleichzeitig den Wirtschaftskreislauf möglichst effizient zu halten.
Doch wie nachhaltig ist die Tendenz von Offline zu Online? Wie viel wird weiterhin im Internet gekauft werden, wie viel wird weiterhin zu Hause gearbeitet werden und wie viele Geschäftstreffen werden auch in Zukunft virtuell stattfinden? Für welche Unternehmen sollen Konkurse abgewendet werden, welche sind vom Strukturwandel negativ betroffen (Zombieunternehmen)?
Wie lange soll es für welche Sektoren Kurzarbeitsprogramme geben? Im Basisszenario sind anhaltende Unterstützungsmaßnahmen seitens der Fiskalpolitik sehr wahrscheinlich. Im Unterschied zur Situation nach der Großen Finanzkrise 2008/2009 werden die Budgetdefizite langsamer zurückgefahren werden.
Paradigmenwechsel
Innerhalb kurzer Zeit haben auf der wirtschaftspolitischen Ebene vier Paradigmenwechsel stattgefunden.
- Zentralbanken kaufen in sehr großem Ausmaß Staatsanleihen, mit denen die Staatsdefizite finanziert werden. Helikoptergeld zur Krisenbekämpfung ist mittlerweile ein konventionelles Werkzeug der Wirtschaftspolitik. Der Unterschied zwischen Geld- und Fiskalpolitik ist verschwommen.
- Das Wiederaufbauprogramm der Europäischen Union ist ein Schritt in Richtung Vergemeinschaftung der Schulden.
- Die Umstellung der Politik der US-amerikanischen Zentralbank (Fed) auf ein durchschnittliches Inflationsziel bedeutet, dass es auf absehbare Zeit keine Leitzinsanhebungen geben wird, auch wenn die Inflation ansteigt und die Arbeitslosenrate fällt.
- Die Signale der Fed und der Europäischen Zentralbank für ein Management der Zinskurve haben sich verdichtet. Deutliche Anstiege der Zinsen sind für das System schwer verkraftbar. Denn die Verschuldung im privaten und öffentlichen Sektor hat markant zugenommen und ein wichtiger Einflussfaktor für die außerordentlich gute Ertragsentwicklung der Kapitalmärkte in den vergangenen Jahrzehnten war das fallende Zinsniveau.
Konsensmeinung
Der Ausblick für die risikobehafteten Wertpapierklassen ist positiv, das heißt, Kursanstiege bei Aktien und Unternehmensanleihen mit einer niedrigen Kreditqualität, Kursrückgänge beim US-Dollar gegenüber einem Währungskorb und nur geringfügige Renditeanstiege (Kursverluste) bei Staatsanleihen mit einer hohen Kreditwürdigkeit.
Das kann mit der Erwartung einer anhaltenden wirtschaftlichen Erholung, den ultra-expansiven Geldpolitiken, den weiterhin unterstützenden Fiskalpolitiken und einer niedrigen Inflation begründet werden. Allerdings ist die Sichtweise zu 100 Prozent mit dem Konsens im Einklang.
Risiken
Risiken gibt es zahlreiche, denen noch dazu eine erhöhte Wahrscheinlichkeit innewohnt.
1) Die Bewertungskennzahlen der Wertpapierklassen sind bereits erhöht, das heißt, eine wirtschaftliche Erholung und ein kräftiger Anstieg der Unternehmensgewinne ab dem zweiten Quartal 2021 wird zu einem guten Teil in den Wertpapierkursen reflektiert.
2) Eine Konkurswelle und ansteigende Arbeitslosenraten, weil die Geld- und Fiskalpolitik zu früh die Unterstützungsmaßnahmen zurückfahren sowie eine dritte Infektionswelle könnten eine Erholung maßgeblich beeinträchtigen.
3) Die Inflation könnte überraschend signifikant ansteigen. Das würde zu Kursverlusten, das heißt, deutlichen Renditeanstiegen bei kreditsicheren Staatsanleihen führen, und damit den gesamten Kapitalmarkt unter Druck bringen (wenn die Zentralbanken dann nicht dagegenhalten).
Graue Rhinozerosse
Diese Risiken sind keine „schwarzen Schwäne“ (niedrige Wahrscheinlichkeit, starke Auswirkung), sondern eine Herde von grauen Rhinozerossen (erhöhte Wahrscheinlichkeit, ebenso starke Auswirkung), die nur darauf warten wütend zu werden.
Frei nach dem Buch von Michele Wucker „The Gray Rhino“. Auch wenn die positiven Impfstoffnachrichten Anlass für Optimismus geben, kann ein Portfolio nicht auf Autopilot (Erholung) gestellt werden.
Wichtige rechtliche Hinweise:
Prognosen sind kein zuverlässiger Indikator für künftige Entwicklungen.