Der Nachrichtenfluss an den Finanzmärkten ist seit einiger Zeit negativ geprägt: Steigende Neuinfektionen, fallende Wirtschaftsindikatoren, steigende Inflationsraten und Geldpolitiken, die langsam aber doch vom Gas gehen, prägen die Überschriften. Dennoch steigen die Notierungen der Aktien und andere risikobehaftete Anlageklassen. Wie passt das zusammen?
Die Weltwirtschaft befindet sich in der Zyklusphase Erholung. Das bedeutet ein Wirtschaftswachstum deutlich über dem langfristigen Trend beziehungsweise über dem Potenzialwachstum solange bis Vollbeschäftigung erreicht ist. Der Gegenwind hat in letzter Zeit zugenommen. Immer mehr Wachstumsindikatoren deuten auf ein nachlassendes Momentum hin. Das betrifft die Einkaufsmanagerindizes, die Konsumenten- und Unternehmensstimmung, die Einzelhandelsumsätze, die Industrieproduktion und die Unternehmensinvestitionen.
Damit die Erholung weiter geht ….
Damit die Zyklusphase Erholung erhalten bleibt, das heißt nicht unterbrochen wird, darf das wirtschaftliche Momentum nicht weiter absinken. Dafür können fünf notwendige Voraussetzungen identifiziert werden:
- Im Basisszenario ist der negative Einfluss der Delta-Variante nur temporär und nicht signifikant. Die Erholung wird von immer mehr Ländern und vom privaten Konsum im Servicesektor getragen: der befindet sich vielerorts noch deutlich unter dem Niveau vor der Pandemie.
- Die Pandemie hat Engpässe auf der Angebotsseite (fehlende Chips, geschlossene Hafen-Terminals, lange Lieferketten) und auf der Nachfrageseite (fehlendes Personal im Servicesektor) erzeugt. Die Folgen sind eine eingeschränkte Produktion und hohe Einkaufspreise sowie eine Behinderung des Lageraufbaus. Im Basisszenario nehmen die Engpässe ab, die Produktion steigt an, der Preisdruck sinkt und die sehr niedrigen Lagerbestände werden aufgefüllt.
- In China deuten die Wirtschaftsindikatoren auf eine Abschwächung des Wirtschaftswachstums hin. Tatsächlich könnte das reale Bruttoinlandsprodukt im dritten Quartal nur noch eine Stagnation im Vergleich zum Vorquartal aufweisen. Das kann auf die Wegnahme einer generell lockeren wirtschaftspolitischen Haltung, die zu einem fallenden Kreditwachstum geführt hat, restriktiven Maßnahmen zur Eindämmung der Delta-Variante und regulatorische Reformen zurückgeführt werden. Im Basisszenario werden in China wirtschaftsunterstützende Maßnahmen gesetzt werden.
- Die Phase der erhöhten Inflationsraten dauert länger an und weist höhere Inflationsraten auf als Anfang des Jahres eingeschätzt wurde. Die Inflationstreiber sind definitionsgemäß vorübergehend (Einschränkungen auf der Angebotsseite aufgrund von Engpässen, starkes Nachfragewachstum in den Sektoren mit Öffnungsschritten). Die Kernfragen, die vorerst unbeantwortet bleiben: Wie lange dauert diese Phase an? Auf welches Niveau wird die Inflation nach der Pandemie fallen? Wird es langfristig (in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts) ein Inflationsproblem geben? Das mittelfristige (zyklische) Risiko besteht in Überwälzungs- und Sekundärrundeneffekten. Auch die Preise von anderen Gütern und Dienstleistungen, die nicht direkt von der Pandemie betroffen sind, könnten stärker als erwartet ansteigen. Zudem könnte eine Lohn-Preis-Spirale in Gang gesetzt werden. Das gilt es genau zu beobachten.
Für den langfristigen volkswirtschaftlichen Ausblick ist maßgeblich, ob die strukturellen (disinflationären) Kräfte, die die Inflation dämpfen, verschwinden (Szenario A) oder sich sogar umkehren (Szenario B).
Szenario A: Die Öffnung von China hat die Inflation gedämpft. Das passiert nicht noch einmal. Für die Zukunft bergen neue Technologien das Potential für einen Anstieg des Produktivitätswachstums in sich. Auch das würde den Inflationsdruck eindämmen.
Szenario B: Das rückläufige Wachstum der arbeitsfähigen Bevölkerung und der zunehmende Anteil der über 65-Jährigen könnte inflationär wirken. Vor allem dann, wenn die Geld- und Fiskalpolitiken wirtschaftsunterstützend bleiben, obwohl Vollbeschäftigung erreicht worden ist. Im Basisszenario werden die aktuell hohen Inflationsraten wieder verschwinden, die mittel- und langfristigen Entwicklung gilt es genau zu verfolgen.
- Immer mehr Zentralbanken nehmen die ultra-expansive geldpolitische Haltung zurück. In jenen Volkswirtschaften der Schwellenländer, die mit Inflationsproblemen kämpfen, werden bereits die Leitzinsen angehoben. In den entwickelten Volkswirtschaften deuten immer mehr Zentralbanken an, dass sie die Anleihenkäufe verringern werden. Das gilt auch für die wichtigste Zentralbank, die Fed in den USA. Die Fed geht jedoch behutsam vor. Es gilt ein sogenanntes Tantrum (einen „Wutanfall“) zu vermeiden: Also eine negative Marktreaktion auf restriktive Maßnahmen der Zentralbank. Bis dato hat das gut funktioniert. Obwohl die Fed kurz vor der Bekanntgabe eines Tapering (Reduktion der Anleihenkäufe) steht, haben die Märkte nicht mit Kursverlusten reagiert. Die Fed bereitet die Marktteilnehmer seit Monaten auf einen solchen Schritt vor. Ähnliches gilt auch für Leitzins-Anhebungen. Die erste Anhebung wird für das vierte Quartal 2022 immer wahrscheinlicher. Auch hier kann man davon ausgehen, dass die Fed-Mitglieder in zahlreichen Reden die Märkte vorsichtig darauf vorbereiten werden. Im Basisszenario bleibt die Geldpolitik in der entwickelten Welt expansiv beziehungsweise unterstützend.
FAZIT:
Für die gute Entwicklung der Anlageklassen mit Risiko gibt es zwei Gründe. Erstens werden die negativen Entwicklungen ignoriert, weil sie wahrscheinlich nur temporär sind (Delta-Variante, Engpässe, China, Inflation) und die Zentralbanken sehr vorsichtig vorgehen. Zweitens gibt es global einen enormen Sparüberschuss (Savings Glut). Auf die mittlere Sicht birgt das natürlich Risiken für die Finanzstabilität in sich. Auf absehbare Zeit werden dadurch die Aktienpreise gestützt.
Wichtige rechtliche Hinweise:
Prognosen sind kein verlässlicher Indikator für künftige Wertentwicklungen.