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Der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit in Europa

Der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit in Europa
Der Verlust der Wettbewerbsfähigkeit in Europa
(c) FREDERICK FLORIN / AFP / picturedesk.com
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Wie schlecht geht es der Europäischen Union beziehungsweise der Eurozone tatsächlich? Diese Frage stellen sich Investor:innen, wenn es um die Festlegung der taktischen und strategischen Gewichtung der EU geht. Denn die Stimmung unter Konsument:innen, Unternehmen, Wähler:innen und Marktteilnehmer:innen ist nicht gerade euphorisch.

Chart Europäische Union und Eurozone: Verbrauchervertrauensindex der Europäischen Kommission (ESI-CCI) von Februar 2014 bis September 2024. Im Februar 2014 lag der Index in der Eurozone bei -12,7 und in der EU bei -9,3. Im Oktober 2022 lag er bei fast -30. Im Juni 2024 lag er bei ca. -12. Null wäre ein neutraler Verbrauchervertrauensindex. Quelle: European Commission, Statista 2024. Weitere Informationen: Europa, EU, September 2014 bis September 2024, saisonbereinigt.
Quelle: European Commission, Statista

Vor dem Hintergrund einer Mehrzahl von negativen Entwicklungen sind die Ursachen gut erklärbar

Schwaches Wachstum

Die Eurozone ist nach fünf Quartalen Stagnation in den ersten drei Quartalen 2024 zu einem leichten Wachstum zurückgekehrt (rund 1% Quartalswachstum, annualisiert, Quelle: Eurostat, EAM). Allerdings ist das Wachstum noch nicht selbst tragend. Einige umfragebasierte Indikatoren sind schwach (Einkaufsmanagerindizes), das ausstehende Kreditvolumen stagniert und die Fertigung schrumpft (vor allem in Deutschland).

Hohe Inflation der Konsumentenpreise  

Der starke Anstieg der Inflation hat die Kaufkraft und die Stimmung reduziert. Die Konsumentenpreisinflation ist mittlerweile deutlich gesunken. Die Gesamtzahl ohne Nahrungsmittel und Energie (Kernrate) ist nach der vorläufigen Schätzung im Monat September auf 2,7% im Jahresabstand gefallen (Quelle: Eurostat). Allerdings befindet sich die Konsumentenpreisinflation mit 4% im Jahresabstand nach wie vor auf einem hohen Niveau. Zudem droht ein permanenter Anstieg der langfristigen Inflationserwartungen, wenn die Abfolge von inflationären Schocks (Güterpreise, Energiepreise, Dienstleistungspreise) eine Fortsetzung findet. Auf der „Kandidatenliste“ steht unter anderem der Ölpreis (Hinweise: Naher Osten, Handelskrieg).

Zinssenkungen wirken Zeit verzögert

Die Europäische Zentralbank hat auf den Inflationsanstieg mit einer restriktiven Zinspolitik reagiert. Dadurch wurde das Wachstum gedämpft. Die Zentralbank steht vor einem Dilemma: Zu frühe Leitzinssenkungen erhöhen die Inflationsrisiken, zu späte Leitzinssenkungen erhöhen die Rezessionsrisiken. Weil sich die Risiken verschoben haben (weniger Inflations-, mehr Wachstumsrisiken), hat die Europäische Zentralbank mit einem Zinssenkungszyklus begonnen. Ende 2025 könnte der Leitzinssatz auf einem neutralen Niveau von 2% landen. Wenn die wirtschaftliche Aktivität schwach bleibt, könnte die EZB den Leitzinssatz sogar auf ein noch niedrigeres Niveau absenken. Die Linderung der Wachstumsschwäche wird allerdings erst mit einer ungewissen Zeitverzögerung eintreten. Erste Anzeichen gibt es bereits: Das ausstehende Kreditvolumen verläuft zwar nach wie vor seitwärts (Stagnationsrisiko für die Wirtschaft), aber die jüngste EZB-Umfrage zur Kreditnachfrage weist einen Anstieg auf.

Hohe Energiepreise

Die Invasion von Russland in der Ukraine hat deutlich angestiegene Energiepreise verursacht. Darunter leidet vor allem die energieintensive Fertigungsindustrie (Stichwort: Chemie).

Infografik: Rohöl Fördermengen und Preisentwicklung. Ölproduktion 2023 gesamt 101,82 Mrd. Barrel pro Tag. Die wichtigsten Länder sind (absteigend gelistet): USA mit 21,91 Mrd. Barrel pro Tag, Saudi-Arabien mit 11,13 und Russland mit 10,75. 
Chart Entwicklung Rohölpreis Brent in den vergangenen zehn Jahren: 2013 lag es bei ca. 100 US-Dollar pro Barrel. Beim Beginn der Coronakrise 2020 waren es ca. 20 US-Dollar pro Barrel. Beim russischen Einmarsch in die Ukraine waren es ca. 125 US-Dollar pro Barrel. 2024 sind es ca. 75 US-Dollar pro Barrel.
Auftraggeber: Erste Asset Management, Quelle: APA finanzen.net EIA. Apa-Grafik on Demand.
Quelle: APA, Die Wertentwicklung in der Vergangenheit lässt keine verlässlichen Rückschlüsse auf die zukünftige Entwicklung des Investments zu.

Zunehmende Ausgaben für Verteidigung

Durch den Krieg in der Ukraine ist die Friedensdividende wahrscheinlich permanent verschwunden. Das bedeutet nur in einer Hinsicht weniger Unsicherheit: Zunehmende Verteidigungsausgaben, vor allem im Fall eines Wahlsieges von Donald Trump (Stichwort: NATO).

Globaler Freihandel wird immer mehr eingeschränkt

Die durch die geopolitischen Entwicklungen (USA/China, EU/China, Russland/Ukraine) vorangetriebene Fragmentierung der Weltwirtschaft bedroht vor allem Länder mit einer hohen Exportorientierung (Deutschland, Österreich). Auf der Handelsebene wird der globale Freihandel schon seit Jahren immer mehr eingeschränkt (Zölle, Exportbeschränkungen, Sanktionen, Lieferkettengesetze). Es droht eine weitere Eskalation (Stichwort: Trump).  

Chinas Kosten- und Technologieführerschaft

China bedeutet auf mehreren Ebenen eine Herausforderung. Die Abschwächung des Wachstums hat zu einer geringeren chinesischen Importnachfrage geführt. Gleichzeitig erringt China in immer mehr Sektoren die Kosten- und Technologieführerschaft (Stichwort: Elektroautos).

Gestärkter Populismus

Auf der politischen Ebene werden die extremistischen und populistischen Parteien gestärkt. Für die EU bedeutet das unter anderem, dass die zentrifugalen Kräfte zulasten der zentripetalen gestärkt werden.

Europa und USA im Vergleich

Doch auch andere Länder beziehungsweise Regionen haben mit ähnlich gelagerten Entwicklungen zu kämpfen. Hier ist ein Vergleich mit den USA hilfreich. Dabei ist das überdurchschnittliche Abschneiden der USA hinsichtlich Wirtschafts-, Bevölkerungs- und Produktivitätswachstum, Innovationskraft und Kapitalmarktentwicklung bemerkenswert.

  • Höhere Produktivität: Zwischen den Jahren 2000 und 2023 ist das reale Bruttoinlandsprodukt in der Eurozone um durchschnittlich 1,1% im Jahresabstand gewachsen. Das ist mit den Wachstumsraten der Beschäftigung (0,7%) und der Arbeitsproduktivität (0,4% p.a.) konsistent. Im Unterschied dazu liegt das durchschnittliche Wirtschaftswachstum in den USA bei 2,1%, wobei die Beschäftigung ebenso um 0,7%, aber die Produktivität kräftiger um 1,4% gewachsen ist.
  • Kräftiges Wachstum: Das durchschnittliche jährliche Investitionswachstum in der Eurozone zwischen dem Jahr 2000 und dem Jahr 2023 beträgt lediglich 0,8%. Im Unterschied dazu sind die Investitionen in den USA mit 2,2% pro Jahr deutlich kräftiger gewachsen. Die nicht getätigten Investitionen finden in einem geringeren Kapitalstock und einem geringeren Produktivitätswachstum ihren Niederschlag.
  • Wettbewerbsfähigkeit: Gleichzeitig sind die Lohnstückkosten im Vergleich zu den Handelspartnern um 9 Prozentpunkte angestiegen. In den USA hingegen sind die relativen Lohnstückkosten um 12 Prozentpunkte gefallen. Dabei ist die Eurozone abhängiger vom Handel als die USA.

Quelle: OECD

Chart BIP Wachstum USA und Eurozone: Entwicklung in den vergangenen 20 Jahren. Daten per 17.10.2024. 2006 lag das BIP in den USA bei rund 4% und in der Eurozone bei 2%. 2020 lag es in den USA bei -7% und in der Eurozone bei -14%. 2024 ist es wieder ca. auf den Stand von 2006 zurückgekehrt. Quelle: LSEG Datastream.
Quelle: LSEG Datastream

Europa ohne Innovationssprünge

Die Erklärungen für das niedrige Wirtschafswachstum sind vielfältig. Am plausibelsten ist folgende: Wenn das Aufholpotenzial immer geringer wird (Kapitalakkumulation beziehungsweise Catch-Up hinsichtlich BIP pro Kopf nach dem zweiten Weltkrieg), wird die Innovationskraft beziehungsweise das Produktivitätswachstum immer wichtiger. Hier scheint die EU tatsächlich ein Problem zu haben. Die letzten Innovationssprünge (Smartphone, Streaming, Digitalisierung, Künstliche Intelligenz) fanden nicht in Europa stand.

Draghi-Bericht mit Lösungsvorschlägen

Mario Draghi hat in seinem Bericht für die EU-Kommission („The future of European competitiveness) eine Liste von Lösungsvorschlägen präsentiert: einfachere Vorschriften, stärkere Marktintegration, eine kohärente Industriepolitik, eine Banken- und Kapitalmarktunion (Stichworte: gemeinsame Kapitalmarktaufsicht, grenzüberschreitende Bankenfusionen, gemeinsame Einlagensicherung) und höhere Ausgaben für Bildung sowie Forschung und Entwicklung. Letztendlich geht es darum, Anreize für Investitionen und Forschung und Entwicklung zu schaffen.

Die Themenblöcke für ein Mehr an Investitionen werden durch die Megatrends (Digitalisierung, Dekarbonisierung, De-Risking, Demografie und Verteidigung,) vorgegeben. Damit dadurch auch das Produktivitätswachstum in der EU beziehungsweise der Eurozone anstiegt, sind allerdings einige Strukturreformen nötig, die vor allem zusätzliche integrative Schritte bedeuten.

Hoffnung auf Kapitalmarktunion

Wichtigster Stolperstein für mehr Investitionen: Die EU ist keine Fiskalunion. Auch für gemeinsame EU-Anleihen scheint es derzeit keine Mehrheit zu geben. Aber ein gemeinsames (nicht national zersplittertes) finanzielles Rahmenwerk zu schaffen (Private Markets, gemeinsamer Kapitalmarkt), um private Investitionen zu ermöglichen, ist realistisch. Mehr Integration ist in der EU meistens in einer krisenhaften Erscheinung bewerkstelligt worden.

Im Jahr 2008 (Große Finanzkrise) betrug in der EU das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf (kaufkraftbereinigt) rund 73% des US-Wertes. Das vergangene Jahr weist einen Rückgang auf 70% auf (Quelle: IMF). Ob der relative Wohlstandsverlust zu den USA Motivation genug ist, ist fraglich. Die neue EU-Kommission hätte die Chance das Thema anzugehen. Aber letztendlich entscheiden die Staats- und Regierungschefs. Ohne produktivitätssteigernde Maßnahmen bleiben die Aussichten für das Wirtschaftswachstum jedenfalls mau. Die Schätzungen für das Potenzialwachstum für die Eurozone (1,2%) beziehungsweise die EU (1,5%) könnten abgesenkt werden, auf 1% oder darunter.

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