Die Konsumentenpreisinflation lag im OECD-Raum im Oktober bei 5,2% im Jahresabstand. Das ist der höchste Wert seit 1997.
Hat die Inflation einen Höhepunkt erreicht oder stehen wir erst am Anfang einer anhaltenden Periode hoher Inflationsraten? Neben der Pandemie wird die Inflationsentwicklung einen maßgeblichen Einfluss auf die Wirtschaft und die Finanzmärkte im nächsten Jahr haben.
Besondere Umstände
Der treibende Faktor für die hohen Inflationsraten ist in erster Linie pandemiebezogen. Die Pandemie stellt einen massiven externen Schock dar. Auf zahlreichen Ebenen ist der „normale“ Zustand verlassen worden.
Das umspannt das Gesundheitssystem, volkswirtschaftliche Kenngrößen wie Bruttoinlandsprodukt und Inflation, die Geld- Fiskal- und Wirtschaftspolitik und sogar die Grundeinstellung zu Solidarität, zur liberalen Demokratie und zum Rechtsstaat.
Gleichzeitig gilt die wohl wichtigste Erkenntnis in der Volkswirtschaftslehre, die den Zusammenhang zwischen Angebot, Nachfrage und Preise beschreibt, nach wie vor: Wenn das Angebot mit einer zunehmenden Nachfrage nicht mithalten kann, steigen die Preise an.
Einbrechende Nachfrage
Mit dem Ausbruch der Pandemie ist ein neuer treibender Faktor für die wirtschaftliche Aktivität hinzugekommen: Der negative Einfluss der Neuinfektionen auf das Wachstum. Dieser wird durch die Maßnahmen zur sozialen Distanzierung (Lockdown) verstärkt.
Dieser Effekt war im vergangenen Jahr im Zuge der ersten Infektionswelle besonders ausgeprägt. Der BIP-Einbruch innerhalb von zwei / drei Monaten war so stark, dass das globale BIP im Jahresdurchschnitt deutlich unter dem Jahr 2019 lag (um 3,4% pa, Quelle: OECD).
Ähnlich auch die Energienachfrage: diese fiel um 4% (Quelle: IEA). Am Arbeitsmarkt fielen im zweiten Quartal 2020 im Vergleich zum vierten Quartal 2019 die gearbeiteten Stunden je nach Region zwischen 12% und 21% (Quelle: BIS). In der Periode nach dem 2. Weltkrieg sind solche starken Ausschläge einzigartig.
„Der treibende Faktor für die hohen Inflationsraten ist in erster Linie pandemiebezogen. Die Pandemie stellt einen massiven externen Schock dar. Auf zahlreichen Ebenen ist der „normale“ Zustand verlassen worden.“
Gerhard Winzer, Chef-Volkswirt
© Bild: Erste AM
Schnelle Verbesserung der Nachfrage
Zusperren geht jedoch einfacher als aufsperren. Mit dem Abklingen der ersten Infektionswelle setzte eine sprunghafte Erholung ein. Für heuer rechnet die OECD mit einem BIP-Wachstum von 5,6%.
Die IEA rechnet mit einem Anstieg der globalen Energienachfrage von 4,6% und die gearbeiteten Stunden befanden sich laut BIS im zweiten Quartal 2021 nur noch um rund 5% unter vom Vor-Pandemieniveau.
Zudem erfolgt die Erholung nicht gleichmäßig hinsichtlich der Länder und Sektoren und ist das Wirtschaftsgefüge global vernetzt (Lieferketten). Besonders die Nachfrage nach Konsumgütern sticht hervor: diese befindet sich bereits markant über dem Vor-Pandemieniveau.
Engpässe
Mit dem schnellen und uneinheitlichen Anstieg der Nachfrage konnte die Angebotsseite nicht mithalten, wodurch Engpässe auf mehreren Ebenen entstanden: Bei Komponenten (Chips), im Transport (Schifffahrt), im Energiesektor (Gas, Rohöl, Kohle) und am Arbeitsmarkt.
Die Folgen sind eine eingeschränkte Produktion und hohe Inflationsraten sowie eine Behinderung des Lageraufbaus und ein Kaufkraftverlust. Hier wird der stagflationäre Einfluss der Pandemie sichtbar.
Hohe Inflationsraten
Bereits zu Jahresanfang wurde ein Anstieg der Inflation erwartet. Die Begründung dafür waren die niedrigen Preisanstiege im vergangenen Jahr. Der Basiseffekt hat die Inflationsrate im Jahresabstand nach oben ansteigen lassen.
Die Engpässe, die durch die schnell ansteigende Nachfrage im Güter- und Energiesektor entstanden sind, waren jedoch überraschend und haben zu einem kräftigen Anstieg der Preise für Konsumgüter, Transport und Energie geführt.
Für den Energiesektor kommt auch zum Tragen, dass in den vergangenen Jahren die Investitionstätigkeit für die fossiler Energien abnahm, während die Investitionen in klimafreundliche Energieträger mangelhaft waren. Der Preisanstieg der Nahrungsmittelpreise kann wiederum (unter anderem) mit dem Anstieg der Kosten für Energie und Transport erklärt werden.
Basisszenario: Die Inflation fällt nicht auf das Niveau vor der Pandemie zurück
Die Phase der hohen Inflationsraten dauert länger an als zu Jahresanfang erwartet wurde. Immer mehr Ökonomen und Zentralbanker sprechen nicht mehr von einer vorübergehenden Entwicklung. Schlussendlich ist jede Entwicklung transitorisch. Jede neue ernste Virusvariante birgt das Risiko von neuen Verwerfungen zwischen Angebot und Nachfrage mit dementsprechenden Preisschüben in sich.
Im Basisszenario werden die aktuell hohen Inflationsraten im nächsten Jahr fallen, weil die Gründe dafür schrittweise in den Hintergrund treten werden: die von der Pandemie ausgelösten Ungleichgewichte zwischen Nachfrage und Angebot.
Die hohe Güternachfrage wird sich wahrscheinlich normalisieren und die Engpässe auf der Produktions- und Logistikseite werden sich schrittweise auflösen. Die Kombination aus einer sich schnell schließenden negativen Produktionslücke (rasant fallende Arbeitslosenraten), Wachstum über dem Potential und der nur graduellen Normalisierung der Geldpolitik wirken jedoch inflationär.
Deshalb wird im Basisszenario die zugrundeliegende Inflation über dem Vor-Pandemieniveau bleiben. Unsere Inflationsschätzung für das 4. Quartal 2021 liegt für die entwickelten Volkswirtschaften bei rund 5% (Wachstum im Quartalsabstand auf das Jahr hochgerechnet). Für das 4. Quartal 2022 rechnen wir mit einer Inflation zwischen 2% – 2,5% (ebenfalls annualisiert). Allerdings drängen sich einige Fragen auf:
Inflationäre Kräfte
Gibt es neben der Pandemie auch andere, strukturelle Kräfte, die auf die Inflation einwirken?
Die Risiken für eine strukturell ansteigende Inflation sind bei drei Punkten angesiedelt:
- Die expansive Geld- und Fiskalpolitiken könnten zu lange, auch nach dem Erreichen von Vollbeschäftigung, expansiv (wirtschaftsunterstützend) bleiben. Mit dem Ausbruch der Pandemie ist eine Veränderung der politischen Ökonomie feststellbar. Der Fokus liegt auf Beschäftigung (verständlicherweise) und auf einer höheren Inflation (weil sie in den vergangenen zehn Jahren unter dem Zentralbankziel lag).
- Der mit der Öffnung von China einsetzende zwei Jahrzehnte anhaltende deflationäre Druck auf die Güterpreise könnte permanent weggefallen sein. Die Globalisierung stagniert beziehungsweise könnte sich sogar zum Teil permanent umkehren (Deglobalisierung). Der China-Effekt (boomende Exporte, fallende Güterpreise) hat abgenommen.
- Gleichzeitig könnte die Veränderung in der Altersstruktur die Inflation unterstützen. In immer mehr Ländern fehlt die arbeitsfähige Bevölkerung. Das könnte zu einer höheren Lohninflation führen. Langfristig betrachtet ist die Entwicklung der Lohnstückkosten die wichtigste Bestimmungsgröße für die Inflation.
Ausstieg aus der ultra-expansiven Geldpolitik
Wie werden die Zentralbanken auf die Inflationsentwicklung reagieren?
Generell gilt: Je weniger fest die Inflationserwartungen am Zentralbankziel verankert sind, je schneller sich die Arbeitslosenrate der Vollbeschäftigung annähert (NAIRU-Grenze oder Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment) und je eher die Angebotsseite permanent beeinträchtigt ist (gefallene Beteiligung am Arbeitsmarkt, Deglobalisierung), desto schneller werden die Leitzinsen in den entwickelten in Richtung neutrales Niveau angehoben werden.
Für die US-Zentralbank veranschlagen wir für das nächste Jahr ein Ende für das Anleiheankaufsprogramm im Frühjahr und drei Leitzinsanhebungen. Die EZB wird im Basisszenario die Leitzinsen unverändert belassen, aber die Marktteilnehmer auf ein Verlassen der Negativzinspolitik im Jahr 2023 vorbereiten.
Zielkonflikte
Für das nächste Jahr kristallisiert sich neben der Pandemie ein weiteres zentrales Thema heraus. Wenn die Inflationsraten nicht fallen, nehmen die Zielkonflikte für die Zentralbanken zu.
Denn in diesem Fall kämen die Zentralbanken unter Druck, die Leitzinsen stärker und früher als derzeit erwartet anzuheben. Restriktive Maßnahmen seitens der Geldpolitik würden jedoch die Zielgrößen
- a) Wachstum und Beschäftigung,
- b) Finanzstabilität,
- c) Finanzierung der Staatsdefizite und für die EZB
- d) Integrität der Eurozone in Mitleidenschaft ziehen.
Positiv betrachtet: Auch wenn man nicht mehr von einer vorübergehenden Inflationsentwicklung sprechen kann, werden im nächsten Jahr im Basisszenario die Inflationsraten graduell fallen. Die Zentralbanker sind jedoch herausgefordert, genau in der angemessenen Geschwindigkeit die ultra-expansive Haltung zu reduzieren.
Wichtige rechtliche Hinweise:
Prognosen sind kein verlässlicher Indikator für künftige Wertentwicklungen.