Seit Wochen tendieren die Börsen weltweit zu Seitwärts- bzw. Abwärtsbewegungen. Ja, es gibt genügend Unsicherheitsfaktoren wie die Griechenland-Krise, die Korrektur der chinesischen Börse und die erwartete Zinserhöhung in den USA, die als Erklärung dienen. Ein Faktor, der derzeit (noch) eher vernachlässigt wird, ist der Umstand, dass die Unternehmensgewinne kaum steigen. Aktienbörsen steigen dann fundamental gerechtfertigt, wenn die Bewertungsniveaus ohne Gewinnwachstum generell ansteigen (z. B. Kursanstiege aufgrund der tiefen Zinsen), oder die Unternehmensgewinne selbst ansteigen (und damit die Bewertungsniveaus rechtfertigen). Die Zinsen können eigentlich nicht weiter fallen. Das heißt, die Aktienbörsen können von dieser Seite keinen Impuls mehr bekommen.
Wie stellt sich das beim „Hoffnungsfaktor“ Gewinnwachstum dar? Das ist nicht so eindeutig zu beantworten. Einige Marktteilnehmer sind diesbezüglich eher skeptisch gestimmt. Ich werde in weiterer Folge diesen Faktor – Unternehmensgewinne bzw. Gewinndynamik – genauer betrachten.
Weltweit rasche Erholung der Unternehmensgewinne nach der Finanzkrise
Veröffentlichte Gewinne (EPS), der langfristige Gewinntrend (EPS Long Term) und die durchschnittlich erwirtschafteten Unternehmensgewinne über die letzten 10 Jahre (Shiller-Methode) 1975 – 2015
Ein Blick auf den Chart macht es deutlich: Über die letzten vierzig Jahre (Juni 1975 – Juni 2015) stiegen die Unternehmensgewinne global unter Berücksichtigung von Zyklen relativ stabil um 5,3% p.a. an (langfristiger Gewinntrend – rote Linie). Nach der Finanzkrise (2008) erholten sich die Unternehmensgewinne relativ rasch und bewegten sich während der letzten 3 Jahre auf diesem Trendniveau. Seit den vergangenen 4 Monaten fallen die Gewinne zwar leicht, aber dennoch kontinuierlich. Das ist ein Warnzeichen, das es zu beobachten gilt: ohne Gewinnwachstum lassen sich weitere Kursanstiege mit der aktuellen Bewertung nicht rechtfertigen. Erst wenn die Gewinne wieder steigen, kann ein Kursanstieg fundamental begründet werden.
Gewinnwachstum nur in vereinzelten Sektoren
Gewinnwachstum ist im aktuellen Umfeld zu einem raren Gut geworden, aber es kommt noch vor(!) – allerdings nur in vereinzelten Sektoren. Dazu zählen der IT-Sektor, Finanzen und Konsum. Speziell der Konsumsektor hat in den letzten Monaten kontinuierlich über fallende Gewinne berichtet, eine Trendwende könnte nun eingeleitet worden sein. Der Highflyer der letzten Monate – der Biotech-Sektor – verzeichnete einen Gewinnanstieg von 100% in knapp drei Jahren. Zuletzt musste er aber über fallende Gewinne berichten und gesellt sich damit zu den traditionellen Unternehmen aus dem Pharmabereich. Dramatisch ist die Lage im Energiesektor, wo die Gewinne im letzten halben Jahr um mehr als 30% gefallen sind. Zu den Sektoren, die über fallende Gewinne klagen, gehören der Industriesektor, Grundstoffe und Telekom.
Den europäischen Gewinnen fehlt die Dynamik
Erwirtschaftete Unternehmensgewinne in Europa (ohne UK) (EPS), der langfristige Gewinntrend (EPS Long Term) und die durchschnittlich erwirtschafteten Unternehmensgewinne über die letzten 10 Jahre (Shiller-Methode) 1975 – 2015
Entgegen dem globalen Trend kann Europa zwar steigende Gewinne vorweisen, der Trend hinkt aber hinter den Erwartungen her. Europa ist derzeit vom langfristigen Gewinntrend (EPS Long Term – rote Linie) weit entfernt. Tatsächlich sind die Gewinne erst auf dem Niveau, das schon im Jahr 2000 erreicht wurde – das war vor fünfzehn Jahren(!).
Woher soll der Gewinnschub kommen?
Die expansive Geldpolitik der Europäischen Zentralbank und der zuletzt schwächere Euro sollten den Unternehmen einen deutlichen Gewinnschub ermöglichen. Dagegen spricht allerdings eine nachlassende Nachfrage aus den Emerging Markets, allen voran China.
Generell stellt sich die Frage, ob eine Rückkehr zum langfristigen Gewinntrend-Niveau auf kurze Sicht möglich sein wird. Die Wachstumsbranchen Technologie und Biotech sind in Europa unterrepräsentiert. Um auf das langfristige Gewinn-Trendwachstum zurückzukehren, ist ein Gewinnanstieg von aktuell 47% erforderlich. Das ist derzeit unwahrscheinlich.