Vergangene Woche überraschte die politische Klasse in der Türkei die Anleger wieder einmal, und zwar mit der Ansetzung von vorgezogenen Neuwahlen am 24. Juni. Nach dem Verfassungsreferendum im April 2017, welches dem neugewählten Präsidenten zahlreiche Exekutivbefugnisse zugestand, gab es schon viele Stimmen, die mit baldigen Präsidentschaftswahlen spekulierten, da diese Erdogans in den letzten Jahren offensichtlich gewordenem Wunsch, seine Macht zu stärken, entgegenkämen. Allerdings waren diese Gedanken bzw. Gerüchte bald vergessen, da Erdogan wiederholt von pünktlichen Wahlen im November 2019 sprach.
Letzte Woche änderte sich die Situation. Mit perfektem Timing wurde das Neuwahlprogramm am Dienstag von Devlet Bahceli, Führer der MHP (Partei der Nationalistischen Bewegung), Allianz-Partner der AKP, vorgeschlagen, am Mittwoch von Präsident Erdogan angenommen, am Donnerstag vom Verfassungskomitee des Parlaments besprochen und am Freitag von der parlamentarischen Versammlung angenommen. Präsident Erdogan brachte als Gründe für die vorgezogenen Neuwahlen die grenzübergreifenden Operationen im Irak und in Syrien sowie die Krise in den Nachbarstaaten vor – was ebenso stringent ist wie etwaige andere Gründe. Tatsache ist, dass die Wahlen, die nun in weniger als zwei Monaten anstehen, den Endpunkt eines Prozesses darstellen, der vor langer Zeit begonnen hat.
Wer profitiert von den vorgezogenen Neuwahlen?
Es wird davon ausgegangen, dass Präsident Erdogan und die regierende AKP sowie ihr Regierungspartner, die nationalistische MHP, offenbar davon überzeugt sind, dass das wirtschaftliche Momentum und die Popularität derzeit auf ihrer Seite sind, im Gegensatz zur Situation, wie sie in einem Jahr eventuell eintreten könnte. In der Tat ist sich die Mehrheit der Analysten einig, dass derzeit die Allianz unter Erdogan bei Wahlen die Oberhand hat.
Es gibt zahlreiche Gründe dafür, die Wahlen vorzuziehen.
1) Die wirtschaftliche Situation:
Die Wirtschaft spielt beim Erfolg der AKP seit 16 Jahren eine wichtige Rolle. So lange die AKP in der Lage war, die realen Wachstumsziele zu erreichen, gewann sie Wahlen. Die Eile spiegelt den Grad an Unruhe wegen der möglichen wirtschaftlichen Verschlechterung wider. Über die vergangenen Jahre konnte die Türkei erstaunliche Wachstumsraten erzielen (in 2017 über 7%), die von der ultra-expansiven Politik (intensive Infrastrukturprogramme, Steuervorteile in verschiedenen Sektoren, Kreditwachstum) unterstützt waren. Der negative Aspekt des expansiven Programms war die konstant hohe Inflation (über 10%) und das ständige Leistungsbilanzdefizit (Schätzung für 2018: ca. USD 50 Mrd.), welches finanziert werden wollte (und will).
Dies ist die Schwachstelle der derzeitigen Wirtschaftspolitik der Türkei, in einem Umfeld, in dem die globalen Zinsen begonnen haben, sich zu drehen, die Liquidität weltweit weiter abnimmt und die Kosten für Fremdkapital im Steigen begriffen sind. Das operative Umfeld für Unternehmen wird auch schwieriger, wenn man bedenkt, dass der Unternehmenssektor mit etwa USD 200 Mrd. an Schulden zu kämpfen hat, seine Einnahmen aber in (der schwachen) TRY bezieht; als Folge werden die Fremdwährungsverluste und Finanzierungskosten weiter steigen.
2) Politische Situation:
Die Opposition ist schwach (seit dem Staatsstreich in 2016 hat Erdogan seine Macht dazu verwendet, um seine politischen Kontrahenten zu neutralisieren). Nun hat die Opposition kaum Zeit, eine starke Allianz zu formen, die für Präsident Erdogan eine Bedrohung darstellen könnte. Darüber hinaus hat der türkische Militäreinsatz in Syrien nationalistische und populistische Gefühle an die Oberfläche gebracht, was der AKP-MHP-Allianz noch weitere Zustimmung bringt.
Was können wir nach der Wahl erwarten?
Die meisten Analysten sind der Meinung, dass vorgezogene Wahlen zu einer politischen Stabilisierung führen könnten. In Anbetracht der Tatsache, dass die politische Richtung (wachsender Autoritarismus und Erosion der Rechtsstaatlichkeit) in der Türkei nunmehr klar ist und nach den Wahlen im Juni nur noch mehr einzementiert sein wird, werden Anleger auf die Wirtschaftsmaßnahmen und deren Erfolg fokussieren müssen.
Vize-Premier Mehmet Simsek erklärte, dass die vorgezogenen Wahlen die wirtschaftlichen Erwartungen der Türkei verbessern würden: „Eine neue Fünfjahres-Periode öffnet sich, wo wir uns auf die zweite und dritte Generation der Wirtschaftsreformen konzentrieren können, welche wir nach den Wahlen lancieren werden.“
Wie reagiert der Aktienmarkt?
In den letzten Monaten ist der Markt durch erhöhte Volatilität gekennzeichnet und fluktuiert ständig zwischen risk-on und risk-off. Die Stimmung ist generell eher schlecht, und der Effekt der schwachen Lira ist ein signifikanter. Die Performance des türkischen Aktienmarktes liegt unter jener des MSCI EM Index und verzeichnet derzeit einen Abschlag von mehr als 30% gegenüber anderen Schwellenländern.
Letzte Woche verbuchte der Markt eine kurzlebige Rallye, wobei sämtliche Sektoren eine gute Performance ablieferten. Die Anleger sind zum Teil schon der Annahme, dass die Unsicherheit nach den Wahlen im Juni verschwinden wird. Der Bankensektor sowie staatsnahe Unternehmen, die in den vorangegangenen Monaten wesentlich schwächer als der Markt waren, übertrafen die Performance-Werte der anderen Sektoren deutlich.
Makro-Situation weiterhin über der Marktentwicklung
Andererseits hat sich das langfristige Szenario nicht geändert. Die Türkei wird auch in Zukunft eine wichtige strategische Stellung für Europa und europäische Unternehmen einnehmen. Türkische Unternehmen werden auch weiterhin von professionellem Management geführt werden, welches effizient, flexibel und geschäfts/kunden/gewinnorientiert agiert und den Anlegern starke Gewinne verspricht. Die Makro-Situation wird weiterhin über der Marktentwicklung hängen (hohe Verschuldung, hohe Inflation, volatile bzw. schwache Währung), doch sind nun die Erwartungen hinsichtlich auf die Stabilisierung der Wirtschaft gerichteter politischer Maßnahmen gewachsen.
Es wird erwartet, dass sich die politische Klasse in der Türkei der momentanen wirtschaftlichen Ungleichgewichte bewusst ist, mit Reformen beginnt und Wirtschaftsprogramme lanciert, die eine stabilere makroökonomische Situation schaffen und das Leistungsbilanzdefizit verringern. Eine deutlichere Erhöhung der Zinsen zwecks Kontrolle der Inflation und der Lira-Schwäche und daraus folgend ein geringeres BIP-Wachstum könnten die Hauptthemen für 2019 sein.
In unseren Portfolios fokussieren wir auf Qualitäts-Unternehmen mit guten Fundamentaldaten, hoher Exportkompetenz und guten Beziehungen zur politischen Klasse. Wir sind der Ansicht, dass diese Unternehmen am meisten von den zukünftigen Anreizen seitens der Regierung profitieren werden.
Wichtige rechtliche Hinweise
Prognosen sind kein zuverlässiger Indikator für künftige Entwicklungen.