Unser Chef-Ökonom Gerhard Winzer hat 10 Thesen für das Jahr 2022 aufgestellt:
1. Bedeutung der Pandemie nimmt ab
Infektionswellen werden weiterhin das Wirtschaftsgeschehen und die Märkte beeinflussen. Der negative Zusammenhang zwischen Neuinfektionen und Mobilität nimmt dabei tendenziell ab, weil die Immunisierung (Durimpfung, Erkrankungen) zu- und die Schwere der Erkrankungen abnimmt.
Die Immunisierung bleibt aber zu niedrig, neue Varianten könnten auftauen, die Effektivität des Impfschutzes könnte abnehmen und die Dauer des Impfschutzes ist unklar. Vor allem Teilbereiche des Servicesektors werden betroffen sein. Über die Beeinträchtigung der Angebotsseite (Lieferengpässe) besteht eine erhebliche Unsicherheit.
Vor allem die Nulltoleranzpolitik in China gegenüber Neuinfektionen stellt hier ein Risiko dar. Auch wenn die Hinweise für im Trend rückläufige Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage zunehmen, könnte ein bleibender Effekt der Pandemie der Aufbau von neuen Lieferketten sein.
Insgesamt bleibt die globale Erholung wegen der pandemiebezogenen Einflüsse holprig. Der unausgeglichene Charakter derselben nimmt jedoch ab (hinsichtlich der Sektoren, Regionen und der Zeit). Im Jahresverlauf findet eine Rotation vom Güter- zum Servicekonsum statt.
Gleichzeitig nimmt das Wachstum der Industrieproduktion zu, weil die Lager niedrig sind, die Engpässe tendenziell abnehmen und das Produktionsniveau unter dem Vor-Pandemie Trend liegt. Dieses Umfeld spricht bei Aktien für eine Bevorzugung vom Value-Segment, zyklischen Sektoren und Aktien außerhalb der USA (Nachholeffekt).
2. Zyklusphase Erholung
Das reale globales BIP-Wachstums bleibt über dem Potential, nimmt aber tendenziell ab. Das BIP-Niveau, hier vor allem der private Konsum im Servicesektor und die Industrieproduktion, befindet sich noch unter dem Vor-Pandemie Trend.
Die nachteiligen Entwicklungen vom vergangenen Jahr nehmen ab (Engpässe, Inflation, Abschwächung in China), die Lagerbestände sind niedrig, der Sparüberschuss ist hoch, die Öffnungsschritte sprechen für fallende Sparquoten, die sehr unterstützende Haltung der Wirtschaftspolitik wird nur schrittweise zurückgefahren und der private Sektor ist nicht überschuldet.
Gleichzeitig beginnt sich die negative Produktionslücke zu schließen, weshalb auch das Wachstum abnehmen wird. Die Rezessionswahrscheinlichkeit ist niedrig. Statistisch betrachtet spricht das für ein unterstützendes Aktienumfeld, obwohl die Bewertungen bereits erhöht sind und der Kostendruck zunehmen könnte.
3. Reformen in China
In China verschwinden die das Wirtschaftswachstum dämpfenden Entwicklungen vom vergangenen Jahr zwar nicht, nehmen aber ab. Zahlreiche Signale von der offiziellen Seite betonen „Stabilität“ als ein wichtiges Ziel.
Der negative Kreditimpuls wird im Jahresverlauf auf ein neutrales Niveau wechseln und die restriktiven Maßnahmen zur Eindämmung des Immobilienbooms (Deleveraging) sowie des Energiekonsums (Dekarbonisierung) werden von selektiven unterstützenden Maßnahmen begleitet werden.
Generell sprechen die Reformanstrengungen für die Überwindung der Middle-Income Trap (weiteres Wachstum des BIP pro Kopf, auch wenn heuer ein Niveau von rund USD 12000 BIP pro Kopf erreicht wird). Gleichzeitig impliziert die Internationalisierung des Kapitalmarktes das Politikziel für eine möglichst stabile Währung (keine anhaltende Währungsschwäche).
Mit einer Rendite von 2,7% und einem deutlich geringeren Risiko für Renditeanstiege als in den entwickelten Volkswirtschaften bleiben chinesische Staatsanleihen attraktiv für Investoren.
4. Enger Arbeitsmarkt
Einengung am Arbeitsmarkt. In immer Ländern wird die NAIRU-Grenze (Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment) erreicht. Dazu kommen sektorspezifische Ungleichgewichte zwischen Angebot und Nachfrage, die nur schrittweise abnehmen.
In einigen Ländern bleibt die Erwerbstätigenquote unter dem Vor-Pandemie Niveau (USA). Der Druck für ein anhaltend höheres Lohnwachstum nimmt zu. Gemeinsam mit einer ansteigenden Zinsbelastung und möglicherweise höheren Kosten von veränderten Lieferketten, bedeuten höhere Lohnkosten eine höhere Kostenbelastung für Unternehmen.
Die Gewinnmargen der Unternehmen kommen unter Druck, die Gewinnerwartungen könnten enttäuscht werden.
5. Inflationsrisiken
Die Inflation fällt, bleibt aber über dem Vor-Pandemie Niveau. Der Inflationsanstieg im Jahr 2021 war stärker ausgeprägt als erwartet (größer und länger anhaltend). Der treibende Faktor dafür war, dass pandemiebedingt ein Ungleichgewicht zwischen Angebot (eingeschränkt) und Nachfrage (schnelle Verbesserung) in einigen Sektoren (Güterpreise, Transport, Arbeitsmarkt, Energie) entstanden ist.
Im Basisszenario fallen die Inflationsraten im Jahresverlauf (vor allem abnehmende Güterpreis- und Energiepreisinflation). Mit den Öffnungsschritten könnte jedoch auch die Servicepreisinflation anziehen und die Inflationserwartungen könnten zunehmen.
Letzteres würde bedeuten, dass der enge Arbeitsmarkt zu einem höheren Lohnwachstum führt und die Sekundärrundeneffekte (letztes Jahr: höhere Nahrungsmittel- und Mietpreise) zunehmen.
Auf die mittlere Sichte könnte die stagnierende Globalisierung (China-Effekt) immer weniger auf die Güterpreise drücken (Effekt im letzten Jahr ersichtlich), währen die Veränderung in der Altersstruktur die Inflation unterstützen könnte (fallende arbeitsfähige Bevölkerung).
6. Leitzinsanhebungen
Die Zyklusphase Erholung, die überraschend hohe Inflationsraten und die schnell fallenden Arbeitslosenraten erhöhen den Druck auf die Zentralbanken, aus der ultra-expansiven geldpolitischen Haltung schneller als noch vor ein paar Monaten gedacht auszusteigen.
Mittelfristiges Ziel: neutrales Zinsniveau, keine Anleiheankaufsprogramme. Generell gilt: Je weniger fest die Inflationserwartungen am Zentralbankziel verankert sind, je schneller sich die Arbeitslosenrate der NAIRU-Grenze annähert (Non-Accelerating Inflation Rate of Unemployment) und je eher die Angebotsseite permanent beeinträchtigt ist (gefallende Erwerbstätigenquote, Deglobalisierung), desto schneller werden die Leitzinsen in den entwickelten Volkswirtschaften in Richtung neutrales Niveau angehoben werden.
Hinzu kommt, dass es Hinweise für einen strukturellen Anstieg des neutralen Zinsniveaus gibt (höhere Budgetdefizite, möglicherweise fallender Sparüberschuss aufgrund der rückläufigen arbeitsfähigen Bevölkerung, hoher Investitionsbedarf für die Bekämpfung des Klimawandels).
Bereits im März wird die Fed das Anleiheankaufsprogramm beenden und (wahrscheinlich) den Leitzinssatz auf 0,5% anheben. Insgesamt sind drei Leitzinsanhebungen bereits eingepreist. Eine Anhebung auf 1,25% erfolgt, wenn der Inflationsdruck nicht abnimmt.
Die EZB könnte in diesem Jahr mit einer deutlicheren Sprache auf Leitzinsanhebungen im Jahr 2023 hindeuten (Beendigung der Negativzinspolitik). Im Trend führen die Leitzinsanhebungen zu steigenden realen Renditen (von negativ in Richtung Nulllinie).
Damit die Bewertungen der Wertpapierklassen nicht unter Druck kommen, muss das Gewinnwachstum in der Lage sein, die Renditeanstiege zu kompensieren. Je größer das Ausmaß für die geldpolitische Normalisierung ist, desto negativer ist der Einfluss für die Märkte.
So lange jedoch die Haltung insgesamt akkommodativ bleibt (niedrige reale Zinsen), bleiben Aktien über den Wirtschaftszyklus betrachtet unterstützt.
7. Risk Assets, Alternative Assets und Green Assets
Die Nachfrage nach Risk Assets (Aktien, Private Equity), Alternative Assets und Green Assets wird hoch bleiben. Die realen Renditen von Staatsanleihen sind (noch) negativ, weshalb Investoren in Risk Assets (Aktien) gedrängt werden (TINA für There Is No Alternative zu Risk Assets).
Der Gegenwind nimmt jedoch zu. Gleichzeitig ist die Besorgnis über die Unabhängigkeit der Zentralbanken angestiegen (hohe Staatsschuldenstände und hohe Bewertungen am Finanz- und Immobilienmarkt, technisch ausgedrückt: Fiscal und Financial Dominance).
Das bedeutet eine zunehmende Nachfrage nach Cryptoassets und Rohstoffen. Zudem könnten die Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels im Trend zu ansteigenden Preisen für Energie und Industriemetalle führen.
Zu guter Letzt implizieren die grünen Vorordnungsvorschriften und die zunehmende Akzeptanz, dass der Klimawandel tatsächlich stattfindet, eine hohe Nachfrage nach grünen Investitionsalternativen (ESG).
8. Emerging Markets Lokalwährungsanleihen werden günstig
Der Value (die Bewertung) von EM Assets (vor allem Staatsanleihen in Lokalwährung) wird immer günstiger. Viele EM-Anlageklassen haben seit dem Ausbruch der Pandemie eine unterdurchschnittliche Performance oder eine negative Gesamtrendite gezeigt.
Einige EM-Anlagen sind bereits vergleichsweise günstig. Die EM-Leitzinsen sind deutlich angestiegen und die EM-Währungen haben gegenüber dem US-Dollar an Wert verloren. Es ist jedoch Anfang Jänner 2022 wahrscheinlich noch zu früh, um zu kaufen.
Treibende Faktoren: Straffung der Fed-Politik und Leitzinsanhebungen in den EM, Inflationsentwicklung, Pandemieentwicklung. Im weiteren Verlauf des Jahres könnte die Bewertung dieser Faktoren so weit zunehmen, dass die Anlageklassen der Schwellenländer nicht nur ausreichend günstig sind, sondern auch Wachstums- und technische Faktoren eine Kauf- bzw. Übergewichtung rechtfertigen.
9. Geopolitik gewinnt an Bedeutung
Die zunehmenden geopolitischen Spannungen (Russland – Ukraine / Westen, Iran – Westen, China – USA) gewinnen an Intensität und könnten in diesem Jahr für die Marktentwicklung relevant werden.
So könnte zum Beispiel in einem Ereignisfall die Energiepreise unerwartet ansteigen und die Risk Assets unter Druck kommen.
10. Volatilität
Generell sprechen die vorangegangenen Punkte für geringe Kursanstiege bei Risk Assets als im vergangenen Jahr (teilweise außerordentlich hoch), häufigere und stärkere Marktkorrekturen beziehungsweise eine höhere Volatilität.
Die Leitzinsanhebungen und die Inflationsrisiken würden dem Lehrbuch entsprechend bedeuten, dass die negative Korrelation von Risk Assets mit kreditsicheren Staatsanleihen abnimmt.
Weil die Suche nach einem alternativen „sicheren Hafen“ noch keinen Konsens gefunden hat (Cryptoassets?, Rohstoffe?, Aktien?, chinesische Staatsanleihen?), dürften auch in diesem Jahr kreditsichere Staatsanleihen als „Absicherung“ (Kursanstiege) gegenüber einem negativen Ereignis funktionieren.
Wichtige rechtliche Hinweise:
Prognosen sind kein verlässlicher Indikator für künftige Wertentwicklungen.