Die angelaufenen Impfstoffprogramme und die sehr große Unterstützung von der geld- und fiskalpolitischen Seite haben zu Erwartungen einer anhaltenden Erholung der Weltwirtschaft geführt und die Preise von risikoreichen Wertpapierklassen aufwärts befördert. Wie kann es weitergehen? Im Folgenden werden anhand von zehn Thesen die Eckpunkte für dieses Jahr abgesteckt.
1. Das Rennen zwischen den Virusinfektionen auf der einen Seite und Impfungen auf der anderen Seite wird uns auch in einem Jahr noch beschäftigen.
Die Infektionen sind nach wie vor hoch. Die Welt befindet sich inmitten der zweiten Infektionswelle. In einigen Ländern gibt es Anzeichen für rückläufige Neuinfektionen. Die angelaufenen Impfstoffprogramme geben Anlass zur Hoffnung. Doch Produktions- und Verteilungsprobleme verlangsamen die Durchimpfung. Zudem sind die neuen Virusvarianten Besorgnis erregend. Sie sind infektiöser und reduzieren die Effektivität mancher Impfstoffe. Weitere Mutationen könnten zu neuerlichen Infektionswellen führen. Darüber hinaus haben die weniger entwickelten Länder nur einen eingeschränkten Zugang zu Impfstoffen. Auch die fallende Akzeptanz von Lockdown Maßnahmen behindert die Eindämmung von COVID-19. Das heißt, eine Immunisierung der Bevölkerung kann in diesem Jahr in einigen Ländern erreicht werden; aber nicht so schnell auf globaler Ebene und Mutationen können zu neuerlichen Ausbrüchen führen.
2. Die wirtschaftliche Erholung wird stattfinden, aber die Entwicklung bleibt ruppig, sektoral und geografisch uneinheitlich und unvollständig.
In der Rückschau war das Wirtschaftswachstum im vierten Quartal 2020 höher als noch vor einigen Monaten erwartet. Die Lockdown Maßnahmen reduzierten das Bruttoinlandsprodukt in einem geringeren Ausmaß als im Frühjahr 2020. Zahlreiche Monatsindikatoren deuten jedoch auf eine deutliche Verlangsamung des globalen Wachstums ab dem Dezember 2020 hin. Dabei fallen vor allem zwei divergente Trends auf. A) In den USA hält sich die wirtschaftliche Aktivität besser als in anderen Ländern. Das liegt vor allem an den fiskalischen Unterstützungsmaßnahmen. Im Unterschied zu den USA werden zahlreiche Länder in Europa sowohl im vierten als auch im ersten Quartal schrumpfen. B) Der Dienstleistungssektor ist deutlich stärker als der Produktionssektor betroffen. Tatsächlich hat die globale Industrieproduktion Ende 2020 bereits das Niveau von Jänner 2020 erreicht. Mit der wahrscheinlichen Lockerung von Eindämmungsmaßnahmen ab dem Ende des ersten Quartals wird es, ähnlich wie im vergangenen Jahr, zu einer mechanistischen Erholung der wirtschaftlichen Aktivität kommen. Aufgrund der Impfstoffprogramme wird der Zusammenhang zwischen Virusentwicklung und Mobilität zusehends reduziert werden. „Nur“ die USA und China könnten Ende 2021 das Trendwachstum erreicht haben. Die Mehrzahl der entwickelten Länder wird erst in den Folgejahren die Erholung abgeschlossen haben. Jüngste Forschungen deuten auf eine „98%-Wirtschaft“ hin. Das heißt, durch die Pandemie könnten im Länderdurschnitt zwei Prozent des Produktionspotenzials nachhaltig zerstört worden sein.
3. Die Inflationsraten werden nur temporär überdurchschnittlich ansteigen.
Die Inflationsraten werden schon allein deshalb im Jahresabstand ansteigen, weil im vergangenen Jahr mit dem Ausbruch der Pandemie zahlreiche Preise gefallen sind. Aber auch die Preise für Nahrungsmittel, Energie und Industriemetalle sind angestiegen und sorgen für überdurchschnittliche Wachstumsraten der Preise im Monatsabstand. Zudem sorgen Lieferengpässe für zunehmenden Preisdruck im Transport (Container) und Produktion. Diese Entwicklung könnte sich verstärken, wenn die Eindämmungsmaßnahmen aufgehoben werden. Denn der dann einsetzende Nachholeffekt bedeutet einen sprunghaften Anstieg der Nachfrage. All diese Effekt wären jedoch nur temporärer Natur und würden im Jahresverlauf verschwinden. Der zugrundeliegende Inflationsdruck wird niedrig bleiben. Dafür werden sowohl die anhaltend negative Produktionslücke (es wird unter dem Potenzial produziert) als auch die flache Philips-Kurve (geringer Zusammenhang zwischen Arbeitslosenrate und Lohnveränderungen) sorgen. Für ein Risikoszenario liegt ein besonderes Augenmerk auf die Entwicklung in den USA. Sollten die Fiskalpakete in den USA zu einer vorzeitigen Überhitzung führen, könnte die Inflation mit Zeitverzögerung überraschend ansteigen.
4. Die Geldpolitik wird ultra-expansiv bleiben.
Die wichtigen Zentralbanken in den entwickelten Volkswirtschaften (zum Beispiel die Fed in den USA und die Europäische Zentralbank) signalisieren eine anhaltend expansive Geldpolitik, auch wenn es zu einer wirtschaftlichen Erholung und zu einem Inflationsanstieg kommen sollte. Das betrifft alle Bereiche, also die Leitzinsen, die Ankaufsprogramme, die Liquiditätsversorgung der Banken und die Steuerung der Markterwartungen (Forward Guidance). Die Fed hat diese neue Politik bereits offiziell gemacht. Das durchschnittliche Inflationsziel von zwei Prozent auf die lange Sicht hat eine Überhitzung am Arbeitsmarkt (maximum employment) und ein moderates Überschießen der Inflation auf die mittlere Sicht zum Ziel.
5. Die Fiskalpalpolitik wird keynesianisch geprägt sein, insbesondere in den USA.
Anfang 2021 hat die Demokratische Partei in den USA die Mehrheit im US-Senat errungen. Damit kann Präsident Biden eine keynesianisch geprägte Fiskalpolitik (erhöhte Staatsausgaben für längere Zeit) betrieben. Tatsächlich hat er bereits ein zusätzliches Fiskalpaket in der Höhe von USD 1900 Milliarden vorgeschlagen, um die Pandemie zu bekämpfen. Weitere Fiskalpakete für die Bereiche Infrastruktur, Gesundheit und saubere Energie sind bereits angedacht. Natürlich wird es auch Steuererhöhungen geben, aber der Kernpunkt ist, dass im Unterschied zu vor zehn Jahren (nach der Großen Rezession) unmittelbar keine Konsolidierung des Staatsbudgets stattfinden wird. Das bedeutet einen zusätzlichen Impuls für das Wirtschaftswachstum mit Vorbildwirkung für andere Länder.
6. Die Ungleichgewichte haben zugenommen und üben einen negativen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum und die Märkte aus.
6.1 Die überdurchschnittliche Bewertungen von Wertpapierklassen als Ergebnis der zunehmenden überschüssigen Liquidität a) reduzieren die langfristigen Ertragserwartungen, b) erhöhen das Risiko von zukünftigen Verwerfungen (Korrekturen, Krisen) und c) limitieren den Handlungsspielraum der Wirtschaftspolitik (Mehr Liquidität könnte die Finanzmarktstabilität gefährden).
6.2. Ähnlich ist es mit den hohen Verschuldungsquoten. Diese a) dämpfen das Wirtschaftswachstum auf die lange Sicht, b) erhöhen das Risiko von zukünftigen Krisen und c) schränken den Handlungsspielraum der Wirtschaftspolitik ein (Wie stark kann die Verschuldung noch zunehmen?).
6.3 Die Einkommens- und Vermögensungleichheit innerhalb und zwischen den Ländern nimmt weiter zu. Dadurch steigen auch die Risiken für das liberale, demokratische und rechtsstattliche System an.
7. Die politischen Effekte, die von der Pandemie ausgehen, sind zugegeben schwer abschätzbar aber wahrscheinlich negativ.
Darauf deuten einige historische Beispiele hin, wo wirtschaftliche Schocks zu politischen Umwälzungen geführt haben. Es wird vielfach argumentiert, dass ein wichtiger Katalysator für den Aufstieg des Populismus und der Anti-Establishment Bewegungen die Große Finanzkrise 2008 / 2009 war. Denn die Ungleichheit der Einkommensverteilung hatte weiter zugenommen. Die Folgen waren unter anderem der Brexit und die Trump-Präsidentschaft. Auch deshalb ist der Anreiz für die Regierungen angestiegen, die Staatsdefizite nicht schnell zu konsolidieren. Auf der positiven Seite sticht vor allem der neue US-Präsident Biden hervor. Dieser steht klar für Multilateralismus. Internationale Organisationen wie die WTO (Welthandelsorganisation), die WHO (Weltgesundheitsorganisation) und die NATO sowie das Pariser Klimaschutzabkommen werden dadurch gestärkt. Gleichzeitig wird die Rivalität zwischen den beiden Supermächten USA und China bestehen bleiben, auch wenn der Umgangston ein anderer sein wird. Es zeichnet sich bereits ab, dass ein wesentlicher Konfliktpunkt die Vorherrschaft in der Halbleitertechnologie sein wird.
8. Der Handlungsspielraum der Wirtschaftspolitik ist (wie bereits erwähnt) gesunken.
Neben den hohen Bewertungen der Wertpapierklassen und der hohen Verschuldung stoßen viele Leitzinsen an der Untergrenze an und sind die Zentralbankbilanzen massiv angestiegen. Damit kann die Wirtschaftspolitik weniger effektiv auf zukünftige Krisen reagieren. Ebenso wichtig wird die Inflationsentwicklung in den kommenden Jahren sein (wahrscheinlich kein Thema für dieses Jahr). Solange die Geld- und Fiskalpolitik dieselben Ziele verfolgen (Vollbeschäftigung, Inflation bei zwei Prozent) ist alles in Ordnung. Was passiert jedoch, wenn diese Ziele tatsächlich erreicht werden sollten, die Zentralbank die Leitzinsen deshalb anheben möchte, aber die Fiskalpolitik aufgrund der hohen Verschuldung für anhaltend niedrige Zinsen argumentiert? (Erst) dann könnte die Inflation tatsächlich deutlich ansteigen, wenn die Zentralbank die Zinsen bei null Prozent belässt (Fiscal Dominance).
9. Der Klimawandel beeinflusst zunehmend unmittelbar das Geschehen auf der wirtschaftlichen, politischen und Marktebene.
Der Einfluss des Klimawandels wird von Jahr zu Jahr sichtbarer. Das wiederum hilft, die Umstellung auf ein klimafreundliches Wirtschaften zu beschleunigen. Beide Trends haben Implikationen für die Wirtschaft, die Politik und die Märkte. Dabei werden drei Dimensionen berührt: a) Adäquate Bepreisung von fossilen Brennstoffen. b) Mehr und transparentere Informationen zu Handlungen, die den Klimawandel beeinflussen, erhöhen die Anreize für eine Umstellung. c) Substanzielle Förderung von Innovationen und Investitionen. Die Europäische Zentralbank argumentiert, dass beide Trends (Klimawandel und Politikumstellung) einen Einfluss auf das Wirtschaftswachstum und die Inflation und damit auf das Primärziel Preisstabilität, aber auch die Finanzstabilität und die Bankenaufsicht sowie die (sehr große) Zentralbankbilanz haben. Aus diesem Grund sind Überlegungen zum Klimawandel integraler Bestandteil der laufenden Überprüfung der geldpolitischen Strategie der EZB. (Quelle: Rede von EZB-Präsidentin Lagarde vom 25. Jänner 2021). Eine Konsequenz: Der Anteil an „grünen“ Finanzierungen (Kredite, Anleihen, Aktien) und Investitionen (EU-Wiederaufbaufonds) wird weiter zunehmen.
10. Die Marktentwicklung wird von zunehmenden Schwankungen aber einer insgesamt positiven Entwicklung an den Risikomärkten geprägt sein.
Die Preise der meisten risikoreichen Wertpapierklassen sind seit Ende März 2020 kräftig angestiegen. In den Marktpreisen ist bereits zu einem guten Teil eine nachhaltige Erholung der Wirtschaft reflektiert. Das liegt an der sehr großen Unterstützung der Geld- und Fiskalpolitik und den angelaufenen Impfstoffprogrammen. Ein wichtiger Kurstreiber wird jedoch wahrscheinlich wegfallen. Die Renditen von Staatsanleihen werden im wahrscheinlichsten Szenario nicht mehr fallen. Generell wird das Investmentregime „Suche nach Rendite“ wahrscheinlich bestehen bleiben. Ein hohes und zunehmendes Ausmaß an Liquidität trifft auf ein begrenztes Angebot an Assets mit einer positiven Ertragserwartung. Das hält die Wertpapierkurse auf einem überdurchschnittlichen Niveau, impliziert aber auch ein erhöhtes Risiko für Kurskorrekturen. Das könnte bedeuten a) eine moderat positive Ertragsentwicklung an den Aktienmärkten und bei den Rohstoffen (Industriemetalle, Energie); b) anhaltend enge Renditeaufschläge für das Kreditrisiko; c) moderate Renditeanstiege von kreditsicheren Staatsanleihen, vor allem in den USA; d) teilweise Abschwächung des US-Dollar (gegenüber dem Chinesischen Renminbi und zyklischen Währungen wie dem Australischen Dollar), aber Seitwärtsentwicklung des US-Dollar gegenüber dem Euro. Zu den angesprochenen Kurskorrekturen: Solange die Inflation niedrig bleibt, werden Staatsanleihen zum einen nach wie vor ein gutes Absicherungsinstrument gegenüber Kurskorrekturen bei Aktien sein und zum anderen (im Gleichgewicht) die Bewertungsniveaus von Risikowertpapierklassen auf einem hohen Niveau halten. Das könnte sich mittelfristig ändern, wenn die Inflation tatsächlich ansteigen sollte (ein großes Wenn). Aus diesem Grund wird auch die Nachfrage nach Gold erhöht bleiben. Weil das Systemrisiko generell angestiegen ist (siehe Ungleichgewichte), könnte auch die Nachfrage nach digitalem Gold (Bitcoin) tendenziell zunehmen, auch wenn die Volatilität von Bitcoin sehr groß ist.
Wichtige rechtliche Hinweise:
Prognosen sind kein zuverlässiger Indikator für künftige Entwicklungen.