Die Aktienbörsen haben in diesem Jahr einen holprigen Start. Was sind die Gründe dafür?
Zunächst sollten wir uns bewusst machen, dass die Aktienmärkte im Jahr 2021 äußerst starke Gewinne verzeichneten, nämlich beispielsweise 29% beim MSCI World Index und 36% beim Stoxx 600 Index (jeweils in EUR).
Damit konnten diese beiden Indizes, in USD gerechnet, das dritte Jahr infolge Gewinne im zweistelligen Prozentbereich einstreifen. Nach solch einer starken Performance ist ein Rückgang bei den Aktienmärkten nicht allzu überraschend. Obwohl auch diverse Markttreiber im Spiel sind, ist die Gewinnmitnahme ein nicht zu unterschätzender Faktor.
Der andere wichtige Faktor für die derzeitige Schwäche der Aktienmärkte ist der scharfe Anstieg der Renditen. US- und deutsche 10J-Renditen erreichten postpandemische Höchststände; die deutsche Rendite befand sich zum ersten Mal seit 2019 wieder auf positivem Terrain. Im Allgemeinen besteht eine negative Korrelation zwischen Renditen und Aktienbewertungen, was sich aus zwei Komponenten zusammensetzt.
Zum einen bedeuten höhere Renditen höhere Diskontsätze in den Bewertungsmodellen, was den Barwert der zukünftigen Gewinne, Cash-Flows und Dividenden eines Unternehmens schmälert.
Zum anderen verlangen Anleger höhere Renditen für ihre Aktieninvestitionen als Risikokompensation, wenn sie mit risikolosen Veranlagungen wie US Treasuries ebenfalls eine höhere Rendite erzielen können. Somit müssen Bewertungskennzahlen wie KGV (Kurs/Gewinn-Verhältnis; Aktienkurs dividiert durch Gewinn pro Aktie) sinken, um den Anlegern eine höhere Gewinnrendite (d.h. Gewinn pro Aktie dividiert durch den Aktienkurs) zu bieten.
Dieser Effekt wird als „Multiple compression“ (in etwa: Kennzahlen-Komprimierung) bezeichnet und kann zu fallenden Aktienkursen führen, selbst dann, wenn sich die Fundamentaldaten des jeweiligen Unternehmens nicht verändert haben.
Die Inflation ist stark gestiegen und in den USA werden erste Zinserhöhungen seitens der Notenbank erwartet. Was für Auswirkungen könnte das auf die Aktien haben?
Die derzeitige Marktvolatilität ist als Reaktion auf die strengere Geldpolitik in den USA zu sehen. Wie neulich schon erörtert, stieg die Nervosität der Anleger gegen Ende letzten Jahres, als die erhöhten Inflationszahlen die Annahme nahe legten, dass die großen Zentralbanken das billige Geld schneller zurückfahren sollten als erwartet.
Das im Januar veröffentlichte Fed-Protokoll bestätigte die hawkische Haltung: Die Fed-Mitglieder revidierten ihre Vorhersage nach oben, nämlich auf drei Zinserhöhungen in 2022, deuteten eine schnellere Reduktion der Ankaufsprogramme an (d.h. eine allmähliche Verringerung des monatlichen Ankaufsvolumens auf null) und diskutierten sogar die Möglichkeit von Quantitative tightening (d.h. der Verringerung des bestehenden Anleiheportfolios).
Die Marktteilnehmer übernahmen ihre Erwartungen, welche nun bei vier Zinserhöhungen in 2022 liegen; die erste wird für das Fed-Meeting im März erwartet. Dies resultierte in den oben angesprochenen Renditeanstiegen.
Generell sind höhere Renditen am unangenehmsten für Aktien mit bereits ambitionierten Bewertungen und hohem erwarteten Gewinnwachstum in der Zukunft; viele davon befinden sich im Technologiesektor (für mehr Details zur negativen Korrelation zwischen Renditen und Aktien mit hohen Bewertungskennzahlen.
Der andere wichtige Faktor für die derzeitige Schwäche der Aktienmärkte ist der scharfe Anstieg der Renditen. US- und deutsche 10J-Renditen erreichten postpandemische Höchststände; die deutsche Rendite befand sich zum ersten Mal seit 2019 wieder auf positivem Terrain.
Tamás Menyhart
© Bild: Erste AM
Bestimmte Marktsegmente profitieren hingegen von höheren Zinsen oder höherer (jedoch noch immer moderater) Inflation. Ein gutes Beispiel für ersteres ist der Bankensektor, da Banken die höheren Zinssätze an ihre Kunden in Form von höheren Kreditzinsen weitergeben. Rohstoffe und Energie sind Beispiele für letzteres und profitieren von höherer Inflation, da der Preis ihrer Endprodukte infolge der generellen Inflation steigt.
Die diesjährige Sektor-Performance in Europa ist ein gutes Beispiel für das soeben Erwähnte: Basismaterialien, Energie und Banken verzeichneten zu Beginn des Jahres solide Gewinne, während sich Technologie am unteren Ende der Performance-Rangliste wiederfindet.
Was die regionale Performance anbelangt, so sind es dieses Jahr bislang die europäischen Aktien, die den allgemeinen Markt schlagen. Dies ist auf deren höhere Zyklizität zurückzuführen. Im Vergleich zu großen US-Indizes wie dem S&P 500, sind europäische Indizes stärker in Finanzwerten und Energie gewichtet, aber schwächer in Technologie. Dies verschafft ihnen bei hoher Inflation und steigenden Zinsen einen Vorteil.
In 2021 verringerte sich die Performance-Differenz zwischen US- und europäischen Aktien, wenngleich US-Aktien das Jahr nach wie vor mit einer besseren Performance als europäische abschlossen. Wenn die Verschärfung der Geldpolitik über das Jahr 2022 hindurch anhält, ohne einen gröberen Einbruch auf den Aktienmärkten zu verursachen, dann hat Europa dieses Mal gute Chancen, am Ende des Jahres vorne zu liegen.
Wie ist die fundamentale Entwicklung der Unternehmen? Welche Gewinnerwartungen gibt es für 2022?
Mitte Jänner eröffneten die großen US-Banken die Berichtssaison für Q4, und in den kommenden Wochen werden auch die europäischen Unternehmen ihre Quartalsberichte abliefern. Zwar ist die Saison noch jung, doch kann man feststellen, dass 78% der US-Unternehmen, die bisher ihre Ergebnisse vorgelegt haben, die Analystenerwartungen übertreffen konnten.
Die Konsensusschätzungen gehen derzeit für Q4 von einem Gewinnwachstum von knapp 22% für die S&P 500-Unternehmen aus, womit man relativ zum Jahresbeginn großteils unverändert liegt. Wenn sich die Schätzung als korrekt herausstellt, wird das Gesamtgewinnwachstum für 2021 bei 45% liegen und die Stärke der postpandemischen Erholung unterstreichen. Für 2022 erwartet der Konsensus eine Nettogewinnsteigerung von etwa 10%.
Die laufende Ausweitung der globalen Wirtschaft und der Unternehmensgewinne erfüllt uns für heuer mit Optimismus. Allerdings wir die global striktere Gelpolitik die Aktienmärkte weniger stark unterstützen als in den vergangenen zwei Jahren. Höhere Inflation bedeutet ein höheres Risiko für die Unternehmensmargen, welche sich allerdings in den letzten Quartalen als erstaunlich resistent erwiesen haben. Der S&P 500-Index hat auch seit dem Beginn des Bullenmarktes im März 2020 keinen Absturz von 10% mehr erlebt.
Das heißt: obwohl wir den Grund für die derzeitige Korrektur verstehen, gehen wir nicht davon aus, dass die breiten Aktienindizes in einen Bärenmarkt fallen werden (d.h. einen Absturz von mehr als 20% verzeichnen werden). Letztlich werden sich das Gewinn- und Wirtschaftswachstum gegenüber den höheren Renditen durchsetzen.
Solange letztere nicht signifikant ansteigen, sollte man sich in Erinnerung rufen, dass, historisch betrachtet, Liquidität nach wie vor billig ist. Bis dahin gilt das TINA-Argument: There Is No Alternative – es gibt, zumindest derzeit, keine Alternative.
Wichtige rechtliche Hinweise:
Prognosen sind kein verlässlicher Indikator für künftige Wertentwicklungen.